Unterdes waren sie am Ortsausgang angekommen. Hochstehende Wiesen flossen den Hang empor und endeten am Wald, dunkel stand der in der Nachmittagssonne. Anjela bog vom Pfad ab und wanderte an den Rückfronten der Häuser entlang. Hier war alles verfallen, die Mauern eingestürzt und bunt überwachsen, Brombeersträucher wucherten dicht, sie trugen schon feste kleine Früchte, aber noch grün.
„Oh, das gibt Beeren!“ rief Dagobert und klatschte in die Hände.
„Ja, hier pflücken wir im Herbst“, stimmte Anjela zu. „Jetzt kommt!“
Sie drang durch eine Lücke zwischen den Sträuchern (laubenartig überwachsen) in einen Hof, der lag voll mit durcheinander geworfenen, sperrenden Holzbalken. Sie waren mit dichten Moospolstern bedeckt und an sonnigen Stellen von wilden Erbsen umschlungen, so dass sie miteinander verwachsen schienen. Anjela suchte sich geläufig einen Weg hindurch bis zur Hauswand, die aus hellen Bruchsteinen gefügt war und bis in Kopfhöhe – Anjelas Kopfhöhe – noch stand. In den Winkel zwischen Hauswand und Umfassungsmauer hatte jemand aus Trümmern und Holzstücken ein kleines Gehäuse – oder einen Schrein – gebaut, und Anjela näherte sich langsamen Schritts und sagte stolz: „Das waren wir, die das gemacht haben – und wir habens noch nie nie niemandem gezeigt!“ Sie richtete den Blick auffordernd und halb vorwurfsvoll auf Waldemar, um ihn an seinen Schwur zu erinnern.
Und Waldemar trat herzu und neigte sich und schaute in den Schrein.
Da war aus Stroh und abgerissenem Moos und Stofffetzen ein weiches Nest bereitet, und in dem Nest lagerte behaglich ein weißer Menschenschädel. Er schaute Waldemar ins Gesicht und grinste gewinnend.
„Oh —“ sagte Waldemar neidisch. Welch ein Schatz! Anjela drängte ihn beiseite, bückte sich und zog den Schädel aus seinem Gehäuse hervor. „Hier“, sagte sie, den Schädel fest an ihre Brust drückend, „du darfst ihn auch mal anfassen, aber nur anfassen!“
Und Waldemar streckte die Hand aus und berührte die beinerne Wölbung. Sie fühlte sich an wie – wie Holz, ja genau, wie Holz. Ein Goldzahn blitzte.
„Gib ihn mir doch mal“, bat Waldemar.
„Nein!“ rief Anjela und trat mit dem Schädel eifersüchtig einen Schritt zurück. „Nur anfassen, hab ich gesagt. Er gehört mir.“
Waldemar blieb stumm stehen und bestaunte das beinerne Grinsen. Ganz weiß war es, und alle Zähne waren daran — und wie die Augenhöhlen glotzten!
„Woher habt ihr ihn?“ fragte er.
„Hmm – wir haben ihn hier gefunden“, sagte Anjela und wiegte den Schädel wie eine Puppe. „Er hat dort gelegen – im Haus.
Einfach gefunden! dachte Waldemar. Wenn er doch auch sowas hätte!
„So“, sagte Anjela, „jetzt ist es genug. Jetzt hast du alles gesehen. Und jetzt zeigst du uns eure Wagen!“
„Au ja!“ rief der gute König Dagobert und hüpfte auf einem Bein.
„Ja“, sagte Waldemar und konnte sich noch immer nicht losreißen.
Anjela bückte sich und bettete den Schädel wieder hinein in sein behagliches Nest, derart, dass er aus dem Schrein auf den Hof hinaussehen konnte. „So“, sagte sie zu ihm, „du bleibst jetzt brav hier und läufst nicht weg, hast du verstanden? Und morgen komme ich wieder.“
Sie rückte den Schädel noch ein bisschen hin und her, auf dass ers auch bequem habe, und tätschelte zum Abschluss seinen blanken Scheitel. „Und sei schön artig!“ rief sie.
Der Schädel grinste gewinnend und tat, wie er geheißen.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Abschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 31.12.2021, © Verlag Peter Flamm 2021)