Das kleine Mädchen hieß Anjela. Sie und ein hochgeschossener Junge, der einige Jahre älter sein mochte, waren die einzigen Kinder, die Vautrin den drei Familien des Ortes geschenkt hatte, für den Augenblick mal, er würde ihre täglichen Gebete schon noch erhören.
„Wie heißt du?“ hatte Waldemar gefragt, und das kleine Mädchen hatte die Arme hinter dem Rücken verschränkt und ernsthaft gepiepst: „Anjela“, und nun sah sie ihn an, ganz Erwartung, was er sagen werde.
Und Waldemar wusste, was zu sagen sich gehörte. „Oh!“ rief er. „Was für ein hübscher Name!“
„Hmmm -“, lachte sie glücklich und tanzte von einem Bein aufs andere. „Und das da ist Dagobert!“
Der lange ältere Junge spähte von seinem Leuchtturm herunter auf die zwei Zwerge, und er lachte und winkte begeistert. „Guten Tag“, sagte er, „Vautrin sei mit dir!“
„Und bei deinen Häusern ebenso“, krähte Waldemar würdig. „Ich bin Waldemar — von den Kaufleuten.“ Eigentlich hätte er sich als erster vorstellen müssen, aber sie schienen ihm die Nachlässigkeit nicht zu verübeln.
„Gehen wir spielen?“ fragte das kleine Mädchen, das den Ton angab.
„Oh ja!“ rief der lange Dagobert und klatschte in die Hände und hüpfte.
„Ja“, sagte auch Waldemar, „ich lauf schnell und sag, dass wir spielen gehen.“
„Ich auch“, erwiderte das kleine Mädchen. „Dagobert, du wartest hier!“
Dagobert wartete.
Bei den Wagen war inzwischen allerhand los. Aslan und Roger hatten sie bis in die Mitte des Ortes gefahren, vor das Portal der Großen Halle, und dann waren die Bewohner geströmt gekommen, vierzehn Personen, und es hub an ein Kaufen und Handeln, dass es eine Lust war. Magdalena bot Wollstoffe feil und Nadeln und Töpfe und Krüge, und Aslan pries vor den prüfenden Männern seinen Vorrat an Messern und Äxten und anderen Eisenwaren, wie sie in den Schmieden am Niederrhein hergestellt wurden, und am anderen Wagen feilschte Roger verbissen um die indische Baumwolle, die er aus Aslans Beständen geholt und probenweise auf einem rasch herbeigetragenen Tisch ausgebreitet hatte. Grand Mère saß, breit lächelnd, dick und nickend, auf dem Wagen und verteidigte das Honigfass gegen die Fliegen. Die gängigen Artikel, die sowieso liefen, wie zum Beispiel Salz, die wurden für später aufgehoben: das waren Dinge, die schnell und sachlich abgemacht werden konnten.
Waldemar zupfte Magdalena am langen Rock über den bloßen Füßen und fragte: „Darf ich mit den Kindern spielen gehen?“
Und Magdalena antwortete: „Der Töpfer, von dem wir sie erworben haben, der wollte sie gar nicht hergeben – ja, geh nur, aber gib gut acht – , er hütete sie zärtlich, sie sind die Frucht seiner Meisterschaft“ (zu Roger hinüberschreiend) „ – Waldemar geht mit den Kindern spielen – schaut den Schwung der Formen und den Sinn der Linien, oh, es ist darin sein Denken und Trachten, seit seine Hand die Scheibe zuerst berührt … nein, ich kanns nicht, ich gebe sie nicht her —“ und sie riss mit umfassender Gebärde einen blauweiß gebrannten Krug an sich und umfing ihn, als wäre er ihr eigen Kind, und impressioniertes Gemurmel antwortete ihr, sie macht ihre Sache gut, bei Vautrin …
Waldemar sprang davon, voll neugieriger Erwartung.
„Ich will eure Spielplätze sehen“, sagte er zu Dagobert und dem kleinen Mädchen Anjela, als sie sich wieder zusammengefunden hatten. „Bitte zeigt sie mir!“
Anjela warf einen Blick auf den feilschenden Haufen am Platz vor der Großen Halle, dann machte sie ihre Augen rund und sagte:
„Ja — aber nur, wenn dus niemandem weitersagst … das ist ein Geheimnis … du darfst es nie nie niemandem erzählen!“
„Ja … nein …“ antwortete Waldemar.
„Du musst schwören“, bestand Anjela. Dagobert, von seinem Leuchtturm herab, schwenkte nickend den Kopf wie einen Vorschlaghammer.
„Aber was ist es denn?“ fragte Waldemar.
„Erst musst du schwören“, erwiderte Anjela, die Hände hinter dem Rücken verschränkt.
„Also gut“, sagte Waldemar. „Ich schwöre, dass ich niemandem je etwas erzählen werde – von dem was du mir zeigst.“
„Bei Vautrin!“ bestand Anjela.
„Bei Vautrin!“ respondierte Waldemar.
„Jetzt darfst dus sehen“, meinte Anjela. „Zeigen wirs ihm?“ wandte sie sich an Dagobert. „Auch das – du weißt schon, was ?“
Und Dagobert nickte wieder begeistert, dass ihm die Haare flogen.
„Also gut“, sagte das Mädchen. „Dagobert, du gehst voran.“
Dagobert drehte sich auf der Ferse um, blieb einen Augenblick stehen, mit eng zusammengeschlossenen Füßen, wobei er ein freudig erregtes „Ha!“ ausstieß, und schwang dann seine Beine, als hätte man ihn auf Besorgung ausgeschickt ins nächste Dorf.
„Nicht so schnell!“ schimpfte Anjela piepsend. „Du bist aber doch dumm!“
Sie lief ihm hinterher, Waldemar bei der Hand nachziehend.
Dagobert führte sie um eines der drei bewohnten Häuser herum, ein Sträßchen hinauf, das in der Mitte von Gebüsch befreit und sauber gehalten war; glänzender Kopfstein schimmerte.
Die Malven hatten zu blühen begonnen, wiegten ihre weichlappigen Blütensterne auf den rauen Stängeln, blasser Purpur im allmählich müder werdenden Nachmittagslicht … die Disteln und Melden, Wolfsmilch und Bingelkraut, Gänsefuß und Eisenkraut und Wilde Karde, sie neigten sich höflich, doch ohne Unterwürfigkeit. Efeu und andere Klettergewächse rieselten über die Fassaden, dass die kaum mehr zu kennen waren.
„Hier geht Gabriele immer und bringt die Kühe auf die Weide, jeden Tag, und abends holt sie sie wieder zurück“, erklärte Anjela. „Wir haben sechs Kühe und einen Stier!“
Sechs Kühe, das war nicht schlecht, musste Waldemar zugeben. Infolgedessen sagte er: „Und wir haben vier Zugochsen. Der älteste heißt Moses Maimon!“
„Die sind groß!“ antwortete Anjela staunend. „Hast du keine Angst vor ihnen?“
„Angst?“ fragte Waldemar verständnislos. „Nein … wieso denn … die tun doch nichts —„
„Aber sie sind so schwarz!“ piepste Anjela.
Das war ein Argument.
Dagobert schwenkte von der Straße weg, zu einem halb eingestürzten Mäuerchen, man hatte einige größere Bruchsteine zum Treppchen geschichtet, um bequem hinüberklettern zu können.
„Das haben wir selber gemacht“, erklärte Anjela stolz, und Dagobert nickte bestätigend.
Eine Wiese von Stachellattich wurzelte im Schutt vor der Mauer, und da die Sonne Zugang fand den ganzen Tag, hielten die starrsinnigen Pflanzen ihre Blätter gekippt, beharrlich nach Norden und Süden weisend.
Beim Hinüberklettern fühlte Waldemar, dass die Ziegel bröselten, wenn man sie nur anfasste, aber das war ja immer so in den festen Orten … Vautrin hat es so gefügt, dass die Menschen immer auch an den Häusern arbeiten müssen, wenn sie darin wohnen wollen, und das bedeutet Mühe, viel Mühe, nicht zu vergleichen mit dem Leben in einem Planwagen …
Auf der anderen Seite fanden sie sich in einem kleinen, sonnebeschienenen Innenhof. Er war wuchernd zugewachsen, von Wolfsmilch zumal, und Waldemar sah, dass in wenigen Wochen der Beifuß hochschießen würde, zu mannshohen Ständen. Das Haus, dem der Hof zugehörte, schien zur Straße hin ziemlich intakt, aber die Rückseite war eingestürzt und hatte den Hof mit Schutt verfüllt. Ein paar Balken sperrten hoch, ausgedörrt von der Sonne und krumm.
„Nun komm doch!“ rief Anjela, und Waldemar schwang sich von der Mauer herab.
Ein kniehoher Rest stand noch von der Hauswand, und dort ragte an dünnem Metallstängel ein seltsam klumpiger Gegenstand aus dem Boden, ungefüge Blume, dick mit Grünspan bedeckt wie mit einer Schicht zähen Mooses. Das Ende bog sich hakenförmig nach unten, fast wie ein Adlerschnabel, und nach oben reckte sich ein zweiflügeliger Griff, erstarrtes Hoffen auf Befruchtung. Waldemar sah neugierig hin, sowas hatte er schon gesehen … „Was ist das?“ fragte er.
Anjela wusste es nicht. „Ach, das gibt’s oft“, antwortete sie mit gespielter Gleichgültigkeit. „Das ist nichts Besonderes.“
„Das ist Messing“, fiel Waldemar ein.
„Komm doch jetzt weiter!“ rief Anjela, eine Spur von Gift in der Stimme.
Um die Ecke, hinter dem Haus, war es dunkel und kühl, richtig moderig, so kühl, wie es nur an hellen Sonnentagen in dunklen Winkeln der Wohnungen sein kann, wo nie ein Lichtstrahl hinfällt. Waldemar schauderte.
Anjela senkte die Stimme zu verschwörerischem Tremolo, dass Waldemar sich an Gabriele erinnert fühlte, und sagte: „Also, wir zeigen dir jetzt was, von dem du nie nie niemandem was erzählen darfst … nie nie nie! Dort unten ist ein Geist gefangen, und wir haben ihn gefunden!“
Waldemar spähte mit langem Hals. Hinten an der Hauswand, wo erneut eine Mauer den Weg versperrte, wartete schwarz ein Loch im Boden. „Komm nur“, sagte Anjela flüsternd. „Er kann nicht raus.“
Auf Zehenspitzen traten sie einige Schritt näher. Das Loch war eine Kelleröffnung, mit sechs oder sieben verfallenen Stufen, und feuchtkalter Muff wehte empor, Mischung aus verwitterndem Mörtel, klammen Strohmatratzen und ausgeilenden Kartoffeln. Als Waldemars Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er von oben, dass unmittelbar hinter der Öffnung, auf dem Schutt des Kellerbodens, die Tür lag, in zwei Teile zerbrochen.
Anjela kletterte die abschüssigen Stufen hinab. „Komm doch!“ wisperte sie zu Waldemar empor und winkte mit der Hand. Waldemar kletterte ihr hinterher, obwohl ihm das Herz bis in den Hals schlug. Endlich standen sie vor dem finsteren Türloch und starrten in die Schwärze des Kellers. Überall quollen aus den Wandfugen fette weißliche Pilze und verströmten einen intensiven, fast stechenden Modergeruch. Anjela rückte nahe an Waldemar heran und flüsterte ihm ins Ohr: „Guck – dort hinten, in der Ecke“ (mit ausgestrecktem Finger an dickem Ärmchen weisend) „da ist es, siehst dus?“ Waldemar strengte sich an, dass ihm die Augen aus den Höhlen traten. Und er sah es.
Im hintersten, nachtfinsteren Kellerwinkel bewegte sichs: schwach leuchtende Fahne wie aus blauem Glas. Schwang in ruhigen Schlieren hin und her, lumineszierend, träger, sinnlicher Tanz aus schmalen Hüften. Das war das Gespenst. Es wiegte sich versonnen in sich selbst, unbestimmt lockend, verführerisch, inmitten des durchdringenden Pilzgeruchs.
„Siehst dus?“ wiederholte Anjela drängend.
„Ja“, antwortete Waldemar, „ich sehs.“ Und seine Nackenhärchen steilten sich.
„Es bleibt immer da hinten in seiner Ecke“, wisperte Anjela. „Es ist auch noch nie woanders gewesen. Aber vielleicht“ – und hier wurden ihre blauen Augen dunkel und leer – „vielleicht kommt es nachts raus und steigt im Hof herum — das Tier —„
Das war entschieden zu viel. Waldemar machte einen Satz und rettete sich entfliehend die Kellertreppe hoch und um die Hauswand herum in den Sonnenschein des Hofs. Anjela und Dagobert kamen ihm nachgestürzt, von seiner Panik angesteckt.
„Na?“ fragte Anjela stolz, wenn auch außer Atem.
„Und es kommt bestimmt nicht raus?“ krähte Waldemar und schaute angstvoll nach der Hausecke, hinter der sich das Kellerloch verbarg.
„Nein“, sagte Anjela ungeduldig. „Es bleibt immer da drin. Frag Dagobert.“
Dagobert betätigte den Vorschlaghammer.
„Aber jetzt komm“, fuhr Anjela fort. „Ich zeig dir noch was.“
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 30.12.2021, © Verlag Peter Flamm 2021)