Der Weg wurde breiter. Keine schleifenden Baumäste mehr an der Wagenplane.
Waldemar kniete auf dem Gerätekasten hinter dem Kutschbock, hielt die Arme um Magdalenas Hals geschlungen und schaute gespannt nach vorne, über die nickenden Ochsenköpfe hinweg, ob das Dorf bald in Sicht käme; denn das dort ein Dorf sein musste, war klar. Schon mehrfach hatten am Wegrand transportfähige Holzbündel gelegen, und die tiefen Fahrrinnen ließen erkennen, dass der Weg regelmäßig von Fuhrwerken benutzt wurde.
„Wenn wir Glück haben“, meinte Magdalena, „wohnt dort eine ganze Familie, und wir können ordentlich handeln.“
Aslan blieb skeptisch, weniger aus Veranlagung als aus Erfahrung, er hatte gefunden, dass es klug sei, niedrige Erwartungen anzusetzen; wenn er dann glücklich enttäuscht wurde, umso besser.
„Wir werden sehen“, murmelte er.
Waldemar spürte an seiner Wange Magdalenas dickes dunkelblondes Haar, hielt sich noch fester und war gespannt, was kommen würde. Ein Dorf, eine Siedlung, eine Stadt – das war immer etwas Neues (so oft er es schon erlebt hatte), und er liebte es, mit den Kindern zu spielen, die dort lebten, in die dunklen Häuser hineinzuschauen, in finstere Keller, ins Straßengewinkel. Das war ein Tauschgeschäft. Er erzählte den Kindern, was er gesehen hatte – und was hatte er nicht alles gesehen! -, und die Kinder zeigten ihm ihre Spielplätze und Wohnungen. Beide Seiten prahlten gehörig, Waldemar hatte von Roger gelernt, wie man das macht, und für die Häuslerkinder gab es kein Kellerloch, darin sich nicht ein Gespenst unterbringen ließe, ein Gespenst, das am Pfosten wachte und die Eindringlinge beglotzte aus mühlsteinrunden Augen – das gehörte dazu, man war entschlossen, sich gegenseitig jedes Wort zu glauben.
„Halten wir dort“? fragte er Magdalena.
„Aber ja“, sagte sie, „wenn dort Leute wohnen, dann halten wir dort auch. Vielleicht bleiben wir sogar, über Nacht.“
Und zu Aslan gewendet, fuhr sie fort: „Frisches Brot könnten wir wieder brauchen …“
„Hm, ja?“ machte Aslan, mäßig interessiert. Solche Dinge pflegten ihn nicht zu besorgen, die gehörten in Magdalenas Obhut. Er warf seiner Frau einen Blick zu, der sagte, kümmer dich nur drum. Dann sah er Waldemar an, der die Arme noch immer um Magdalenas Hals geschlungen hielt und und sehnsüchtig nach vorne schaute, in Richtung des erhofften Dorfes, und fragte: „Langweilst dich wohl, Großer?“
„Jaa-a“, sagte Waldemar quengelig.
„Na ja“, meinte Aslan, „er will runter vom Wagen, hat Unruhe in den Knochen. Das kenn ich … Wart noch ein bisschen, in ein paar Jahren darfst du den Wagen lenken, du wirst sehen, das macht dir Spaß.“
„Ja“, sagte Waldemar und machte große Augen. Moses Maimon am Zügel halten! Donnerwetter!
Magdalena blickte prüfend auf den Wegboden, aber die Fahrrinnen waren stark ausgefahren, ließen frischen Spuren nicht erkennen.
„Ich möchte wohl wissen“, sagte sie, „ob der mit dem Einspänner noch vor uns ist.“
„Er muss“, erwiderte Aslan. „Es hat keine Abzweigung gegeben.“
„Wer das wohl sein mag?“ fragte sie.
Aslan zuckte die Achseln. „Wir wollen im Ort danach fragen“, sagte er abschließend.
Der Weg öffnete sich auf einen kleinen Platz, Wohnsitz einer hohlen, doch immer noch grünenden Buche, gegen deren Stamm (sieh an!) eine Holzbank sich lehnte; hernach wurden die Wagen hineingelenkt in eine unübersichtliche Biegung, ein Hohlweg schloss sich um die Reisenden, denn das Fahrbett senkte sich, indes der umgebende Waldboden sein Niveau behielt; und endlich fiel alles zurück: Wald, Hügel, Gesträuch und Schattengrün, eine Woge von Mittagsglast stürzte über die Ochsen, dass sie sich verwandelten in glühende Wolken aus Obsidian, dem großen Aufgang applaudierte stürmisch der Smaragd eines Bohnenfeldes.
Und vor den Kaufleuten das Dorf.
Es lag zwischen zwei Hügelgruppen und erstreckte sich von einer Seite des Tales zur anderen; zur Linken kletterte die Häuser die Hügelflanke hinan, weißgischtende Woge, im Hochsturm erstarrt, zu lautlos lächelndem Frieden.
Der spitze Turm einer Großen Halle hütete das Dorf, Schäfer inmitten weißwollener Herde, auf seinen Stab gestützt.
Einige der Häuser schienen frisch geweißt, und besaßen Fensterscheiben, blitzend im Mittagslicht; und selbst aus der Ferne erkannte man, dass die Dächer unmittelbar um die Große Halle gedeckt waren.
Der Weg hinein ins Dorf lag hartgestampft und befreit von allem Gestrüpp, nur von der Seite hangelten ein paar gierige Brombeerranken herein, erfolglos.
„Das sieht gut aus“, meinte Magdalena.
„Ja …“, machte Aslan abwartend.
Moses Maimon ließ sich zu schnellerem Schritt hinreißen, und Cornelius Agrippa tat es ihm nach. Ein Ort – das bedeutete frisches Wasser, eine gemütliche Nachtunterkunft, Weide oder Dach über dem Gehörn, alles sehr schätzbare Dinge.
„Halt, brrrr —„, brüllte Aslan. Direkt am Ortseingang, vor der ersten Hauswand, stand die Meldeglocke.
Waldemar schwang sich den Kutschbock hinunter und eilte, den Klöppel zu schwenken, das war seine Aufgabe, wo immer sie hinkamen, und er wäre eifersüchtig geworden, hätte ein anderer sich eingemischt.
Die Glocke hing in einem überdachten Holzgestell, das auf einem geweißten runden Sockel stand. Waldemar ergriff den Klöppelstrick und begann, ihn aus Leibeskräften zu schwingen. Die Glocke lärmte schrill und anhaltend, der Klang brach sich an den Höhen ringsum, sammelte sich in Scherben um den schläfrigen Schäfer.
Jetzt galt es zu warten. Roger war herangefahren gekommen und hatte seine Tiere neben Aslans Wagen gezügelt, und auch er und Inge und Grand Mère hielten gespannt Ausschau.
Bis jemand auf das Läuten reagieren konnte, mochte einige Zeit vergehen, denn wenn die Häusler draußen auf den Feldern arbeiteten, hatten sie unter Umständen einen weiten Weg.
Doch den Kaufleuten wurde diesmal keine Geduld abgefordert. Den Weg von der Großen Halle und den gedeckten Häusern herauf kam geeilt eine Frau in kurzem Kleid, sich im Lauf eilig das Kopftuch umbindend.
„Hallo!“ winkte sie schon von weitem. Sie mochte dreißig Jahre zählen, war frisch und kräftig, rote Äderchen winkelten auf ihren Wangen.
Als sie näherkam, mäßigte sie sich, schöpfte Atem und rief lächelnd: „Vautrin sei bei eurem Eingang und Ausgang … ihr seid Kaufleute?“
Aslan sprang vom Wagen und erwiderte: „Ja, Schwester, und Vautrin sei bei euren Häusern ebenso. Ich heiße Aslan, und das“ (raumgreifende Gebärde) „ist meine Familie.“
Moses Maimon schüttelte das breite Ochsenhaupt.
(Aslan verfügte, wie jeder Kaufherr, über eine kräftige Ansprache, Häusler zu begrüßen; doch dachte er die nun aufzusparen, bis das ganze Dorf versammelt sei.)
Die fremde Frau sagte, platzend vor Neugier: „Ich heiße Gabriele, und bin die Frau von Reinhard, der der Dorfherr ist. War eure Fahrt von leichter Mühe?“
„Hm, ja“, antwortete Aslan ausweichend. „Sag, Gabriele, ist hier ein Fremder durchgekommen? Wir haben Wagenspuren gesehen, seltsame …“
Gabrieles Augen wurden rund, sie senkte die Stimme zu flüsterndem Tremolo.
„In meinen Augen ist das Bild eines Fremden. Er fährt durch unseren Ort hindurch, wie Vautrin ihn uns geschenkt hat, und hält nicht an und jagt sein Pferd den Weg hoch, den ihr eben gekommen seid, auf zweirädrigem Wagen sitzend. Aber nach wenigen Stunden schon kehrt er zurück, das Pferd von Schweiß bedeckt. Er hält an, tränkt sein Tier, nimmt wenig Nahrung zu sich und spricht freundliche Worte, doch kurze. Zu wissen begehrt er, ob ein Fremder, ein Einzelner, hier gewesen sei, und ob er zu uns gesprochen habe. Ich sage zu ihm, ‚Nein, Herr, das Bild von niemandem ist in meinen Augen, aber wenig mehr als eine Woche ist vergangen, seit mein Schwager mir erzählte, ein Fremder sei bei ihm im Ort gewesen, ein einzelner, und habe zu ihm gesprochen.‘ Da lässt der Mann im zweirädrigen Wagen, mit schweißbedecktem Pferd, mich den Weg beschreiben, der zum Ort meines Schwagers führt, und jagt wieder davon, kaum dass meine Augen ihn gesehen haben. Das ist vor wenigen Stunden erst gewesen. Und ein Gewaltiges ist um den fremden Mann, dessen Bild in meinen Augen ist —„
Sie schuf eine Pause, hob den Finger und fuhr fort, dramatisch gedämpft:
„Er trägt den schwarzen Rock der Maîtres von Paris!“
„Oha!“ „Ach!“ „Was!“ ließ sich die Kaufmannsfamilie vernehmen, und Gabriele nickte vielsagend, voll Befriedigung über die Wirkung, die sie erzielt hatte.
Es war aber auch seltsam. Ein Maître aus Paris, hier, in dieser Gegend, in einem Einspänner umherhetzend – was das wohl zu bedeuten hatte?
„Wir danken dir, Schwester, für diese Erzählung“, nickte Aslan. „Nun sag mir aber, wie viele Personen seid ihr in diesem Ort?“
Sie waren beeindruckt, als sie die Antwort vernahmen.
Es lebten volle drei Familien im Ort!
(Peter von Mundenheim, Auszug aus einem unveröffentlichten Manuskript, veröffentlicht auf dieser Seite 27.12.2021, © Verlag Peter Flamm 2021)