Die Stiefel die Mützen hatten sich noch mit millionenfachem Töten begnügen müssen. Und sehen wir der Sache ins Gesicht: ganz bestimmt nicht aus moralischen Vorbehalten. Kannten die doch gar nicht. Sondern schlicht auf Grund der materiellen Voraussetzungen.
Schon das Töten einer einzigen Million von Menschtieren erfordert logistische Voraussetzungen, die wollen erst mal geschaffen sein. Übrigens auch das Wegräumen der Leichen hinterher. Und wiewohl, wie ich schon gesagt habe, die Opfer nur wenig Widerstand geleistet hatten —
Warum?
Sie hatten gewusst, dass ihnen niemand helfen würde, darum.
Sie waren umgeben von Menschtieren, die — da müsste ich jetzt weit ausholen. In den Imperien der Mützen wie der Stiefel waren die heimgesuchten Opfer umgeben von Menschtieren, die grinsten. Gafften. Die Achseln zuckten. Wegschauten. Sagten: Geschieht denen ganz recht. Sagten: Die müssen ja was angestellt haben, ohne Feuer kein Rauch. Sagten: Wie gut, dass es mich nicht trifft. Sagten: Komm, lass uns runter gehen von der Straße, dass wir da nicht auch noch reingeraten. Sagten: Das sind doch die Anderen! Sagten: Gut, dass die endlich eins in die Fresse kriegen.
Menschtiere, die sich an den Straßenrand stellten und Beifall klatschten. Menschtiere, die den Abgeführten hinterherspuckten. Menschtiere, die den Abtransportierten Hohnlieder hinterhersangen. Menschtiere, die Steine warfen. Menschtiere, die riefen: Guck mal, der Alte da, hat einen Pelzkragen, das Schwein!
Gab es auch Menschtiere, die ihr Antlitz verhüllten, in Scham und Trauer? Gab es Menschtiere, die weinten? Gab es Menschtiere, die ihre Angst verfluchten, ihre Schwäche, dass sie sich nicht hinstellten und protestierten?
Es gab Menschtiere, die sagten: Wir konnten ja nichts tun, wir wären ja sonst auch weggekommen.
Menschtiere, die das Wort „wegkommen“ benutzten. Menschtiere, die sagten: Ja, ich weiß auch nicht, was aus der dann geworden ist, die ist wohl auch weggekommen.
Menschtiere, die hingingen und um kleine Münze das Eigentum der Verschleppten kauften. Die sind ja jetzt weg, die kommen nicht wieder. Guck mal, was die für Geschirr gehabt haben.
Menschtiere, in deren Wohnungen noch Jahrzehnte später die gestohlenen Klaviere standen. Orchester, in denen noch bis ins nächste Jahrhundert hinein auf den gestohlenen Violinen musiziert wurde. Museen, in denen noch bis ins nächste Jahrhundert hinein die gestohlenen Gemälde hingen. Antiquariate, in denen bis in alle Zeit die gestohlenen Bücher verkauft wurden.
Menschtiere, die höhnten: Guck, wie die blinzeln, wenn sie ans Licht gezerrt werden.
Menschtiere, die riefen: Jetzt kriegen die auch noch eine Fahrkarte. Gleich die erledigen, hier an Ort und Stelle. Auf der Flucht erschießen!
Menschtiere, die sich zuriefen: Guck mal das hübsche Kind da. Haben die bestimmt gestohlen.
Menschtiere, die befriedigt nickten: Endlich wird mal durchgegriffen. Die haben uns lange genug auf der Nase herumgetanzt.
Menschtiere, die sagten, die Hände in den Taschen: Guck mal der da, den hab ich gekannt, der war Lehrer, jetzt kriegt der sein Fett.
Menschtiere, die die befehlshabenden Uniformierten sahen und dachten: So einer will ich auch werden.
Menschtiere, die den jungen Frauen hinterherstarrten und laut sagten: Die vorher noch ficken, und dann ab mit der ins Gas.
Menschtiere.
Wiewohl also, sage ich, die Opfer nur wenig Widerstand geleistet hatten, war es ganz unmöglich, dass ihre Gefangennahme ihre Verschleppung unbeobachtet blieb. Es war auch nicht möglich, dass ihr Verschwinden unbeobachtet blieb. Ihr Abtransport erfolgte nicht durch die Luft, nicht durch Zauberei. Lastwagen mussten bereitstehen, Busse, Güterwagen. Sammelstellen waren einzurichten, auf dem Marktplatz auf dem Güterbahnhof.
Die Vorgänge unterschieden sich nicht groß, bei den Mützen bei den Stiefeln, die Reaktionen unterschieden sich nicht groß. Die Verschleppten weg, zogen schon am Abend die neuen Mieter ein in die Wohnungen, endlich! riefen sie sich zu, wie gut, dass die Schweine endlich weg sind, Platz haben die gehabt! Alles uns gestohlen!
Die Mörder konnten nicht einmal morden unter Ausschluss der Öffentlichkeit, denn egal, was sie hinterher logen, sie selber waren die Öffentlichkeit. Die Abstreiter versuchten das späterhin zu trennen, wir hier waren die Öffentlichkeit, versicherten die Abstreiter, und die da waren die Mörder, und wir hier haben nichts von alledem gewusst.
In Wahrheit waren die Mörder und die Öffentlichkeit identisch.
Wenn also schon nicht hatte gemordet werden können unter Ausschluss der Öffentlichkeit, wieviel weniger dann gekidnappt verschleppt genötigt erpresst beraubt. Will sagen, die Sache war aufwendig. Erforderte Planung und Vorbedacht, erforderte Bereitstellung von Material und Transportmitteln, kostete Kohle und Benzin.
Nachher mussten die Leichen beseitigt werden. Verbrannt vergraben. Die Mehrzahl erwachsene Menschen, mit dem entsprechenden Volumen mit dem entsprechenden Gewicht. Schon tausend Menschen vergräbt einer nicht so leicht, schon tausend Menschen verbrennt einer nicht so leicht. Tausend Menschen einfach in den Fluss geworfen, verstopft den bei der nächsten Konfluenz.
Alles Dinge, die bedacht sein wollen, die bedacht wurden, bei den zwanzig Millionen Opfern der Stiefel, bei den hundertzwanzig Millionen Opfern der Mützen.
Das Geheimnis lautete: Dezentralisierung. Es wurde nicht an einer einzigen Stelle gemordet, sondern an vielen. Es wurde nicht an einer einzigen Stelle mit der Verschleppung begonnen, sondern an vielen. Fehlte nirgendwo an willigen Helfern, an Mitmachern. Die Dezentralisierung erlaubte bequeme Versorgung der Unterstützer. Die konnten nach vollbrachter Tat einfach nach Hause gehen und die gestiefelten Füße hochlegen, mussten nicht umständlich genährt und behaust werden. Zentrale Planung, aber dezentrale Realisierung, das war das Geheimnis. Lasst hundert Blumen blühen! Hundert Blumenzwiebeln stecken, da muss einer sich schon tummeln, da kracht der Rücken. Wenn aber hundert Personen an hundert verschiedenen Orten je eine Zwiebel senken in den Grund, da flutscht die Sache!
Das alles hindert nicht, dass an einzelnen Orten zu gewissen Zeiten das Morden sich konzentrierte. Die Mützen brachten in einigen Ländern, da sie zur Machtergreifung gelangten, mehr als ein Drittel sämtlicher Bewohner um. Da musste das Verscharren mit raschester Hurtigkeit vonstattengehen, dünne Erdkrume über die Kadaver, fertig! kein Wunder, wenn dann im nächsten Frühjahr zusammen mit den hundert Blumen tausend verwesende Arme und Beine sich aus dem Boden hoben. Und da und dort verstopften auch die Flüsse, und wenn das unter einer vielbegangenen Brücke geschah, umso besser, sehen die Schweine gleich mal, was ihnen blüht, wenn sie nicht parieren.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, diese Passage veröffentlicht auf dieser Seite 21.12.2021, © Verlag Peter Flamm 2021)