Nichts gelernt

… ihr versteht, es kommt gar nicht so sehr auf das an, was tatsächlich geschah, sondern vielmehr auf das, was im Geweb der Ereignisse als möglich liegt. Das Geweb der Ereignisse ist ein nasses Geweb, es ist durchtränkt von Möglichkeit. Es ist vollgesogen mit Möglichkeit. Diese Durchwirktheit von Möglichkeit ist die Bedingung aller Zukunft. Alle Zukunft des Menschtiers ist offen, nichts musste je so kommen, wie es kam, alles hätte auch anders kommen können, dies funktioniert aber nur, indem das Geweb der Wirklichkeit in jedem Augenblick durchwirkt ist von der unendlichen Fülle der Möglichkeiten, die können die müssen ergriffen werden. Nicht einmal, was einmal geworden ist, ist fertig, denn es gliedert sich ein als Baustein in ein Gebäude, das immer im Werden, niemals fertig ist, und ob der eine Stein Türsturz ist, oder Giebelkrönung, oder Türschwelle, das bestimmt allein die Baumeisterei des Voraus. Die Balustrade einer Innengalerie, die heut ein Menschwesen fertigt, die schließt vielleicht morgen schon einen Balkon ins Freie ab, weil die kommende Generation es geraten fand, den Tanzsaal abzureißen, und nur die Galerie stehen zu lassen. Es gibt im Leben der Menschtiere keine Fertigkeiten. Es sind die Möglichkeiten, die die Tatsächlichkeiten bestimmen. Was immer das Menschtier baut, es ist unabgeschlossen, es ist offen hinein ins Reich des Möglichen. Deshalb endet ein jeder Versuch der Menschtiere, die Wirklichkeit einzufrieren nach den Maßgaben irgendeines wahndurchseuchten Plans, im Massenmord, in Elend und Verzweiflung, und endlich doch im Neuanfang. Es kann nicht anders sein. Wollten wir nur die Tatsächlichkeiten betrachten auf dem Planeten Erde, blieben sie ganz unverständlich. Es sind die innewohnenden Möglichkeiten, die dem Sinn der Ereignisse Folge verleihen, oder der Folge der Ereignisse Sinn. Folge und Sinn. Nicht unbedingt Logik, noch weniger Notwendigkeit. Das Menschtier glaubt das gern, es giert nach Notwendigkeit. Es betrachtet seine eigene Geschichte und hofft auf die Erkenntnis des Notwendigen. Das musste einfach so kommen, ruft es, und fühlt erst dann in seinen Einsichten sich geborgen.

Nichts muss jemals „so“ kommen. SIE schafft die Welt neu mit jedem Tag. Das Menschtier ist keineswegs verbunden, von Katastrophe zu Katastrophe fortzuschreiten, in solchem Fortschritt wohnt keine Notwendigkeit. Wir lernen einfach nicht, seufzt das Menschtier, aber auch in solchem Seufzen wohnt nur wenig Sinn. Das Menschtier muss nicht unbedingt lernen, es muss nicht einmal seines vielfältigen Wissens inne werden, das es doch hat. Es wäre schon viel gewonnen, ja, sage ich vielleicht recht, wenn ich sage, es wäre alles gewonnen?, alles, wenn nur das Menschtier mit Befriedigung zu sagen sich verstehen könnte, nichts haben wir gelernt, wir wissen weniger denn je.

Mit Befriedigung, darum geht es.

Denn vor IHRER Welt zu stehen und einzugestehen, wir haben keine Ahnung, das ziemt doch dem Geschöpf.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, diese Passage veröffentlicht hier 18.12.2021, © Verlag Peter Flamm 2021)