… eigentlich ist das Menschtier darauf eingerichtet, die Aufforderung zu Blickkontakt positiv zu beantworten. Die weiblichen Menschtiere verstehen diesen Impuls meisterlich zu manipulieren. Sehen dich, werfen dir einen blitzschnellen taxierenden Blick zu, Blick, der sich blitzartig wieder abwendet. Du blickst zurück, irritiert. Da war doch was? Das Weibchen erwidert den Blick nicht. Schreit hinterher klagend: Da hat mich wieder einer angestarrt!
Das weibliche Menschtier ist das aufmerkende Menschtier. Bewegt sich irgendwas, du kommst um die Ecke, das Weibchen merkt auf, blitzartig, mit uneinholbarer Geschwindigkeit, ebenso blitzartig wendet es den Blick wieder ab. Streitet nachher alles ab, selbstverständlich und zuallererst vor sich selber. Ich hab doch nicht geguckt! Ich doch nicht! Wer behauptet denn sowas!
Da dem weiblichen Menschtier das inhibitionsfreie Lügen der erste und natürlichste Modus des Weltzugriffs ist – was „Wahrheit“ sei, lernt es erst später, und wird das Konzept immer als besonders abgefeimte Lüge betrachten – haben empfindsame Seelchen wie der Junge in der Konfrontation mit der Weibchennatur von allem Anfang an kaum Überlebenschancen, und wollen, da sie die Niedlichkeit und Hübschheit dieser Wesen idealisieren, ihre eigene bessere Einsicht gewöhnlich nicht wahrhaben.
Tatsächlich ist dem weiblichen Menschtier die Lüge Waffe und Macht. Wer ihm diese Waffe zu entwinden trachtet, und sei es mit Zureden und Ermahnung, ist Feind. Wer sich von der Waffe überwinden lässt, ist Depp und verdient es nicht besser. Der erste Zweck weiblicher Gemeinsamkeit ist immer die Rechtfertigung von Lüge. Da ist gar nichts dabei! Das sagen wir jetzt! Wenn wir nur gemeinsam fest dabei bleiben, kann der gar nichts machen! Die wollen es ja nicht anders! Das ist ganz Wir, und wir sind die Richtigen!
Wenn ehrlose Männer die Waffe selber verwenden – ich hätt die ja gar nicht angefasst, ich wär noch nicht einmal auf die aufmerksam geworden, wenn die nicht so einen kurzen Rock angehabt hätte! – ist das Quieken übrigens besonders laut. Die Empörung über männliches Lügen gehört zur weiblichen Grundausrüstung ebenso wie die Überzeugung, weibliches Lügen sei der naturgemäße und rechtmäßige Modus weiblichen Weltzugriffs. Wir sagen das jetzt so! Wir legen das jetzt fest! Wenn wir fest dabei bleiben, setzten wir das durch! Da kann uns keiner was wollen!
Zum Lügen gehört naturgemäß das Abstreiten. Frauen streiten ab. Das Abstreiten wird praktiziert mit großer Beharrlichkeit, und nicht ohne eine gewissen Erfolg. Wahrheit ist, was alle sagen! Zweischneidiger Grundsatz, der zwar erlaubt, jedes beliebige Gelüg als Wahrheit zu etablieren, aber gegen beharrliche Wiederholung wenig Widerstandskraft hat. Die Lüge ist weiblich! geistert deshalb als Gerücht durch die Menschengeschichte, vermag nirgendwo als anerkannte Wahrheit zu siedeln, lässt sich aber auch nirgendwo vertreiben. Ist mit diesem Satz wie mit gewissen Kräutern, so die Menschen als Unkräuter bezeichnen. Unkräuter sind unerwünschte Pflanzenwesen von besonderer Wuchs- und Wurzelkraft, unverwüstlich, unzertretbar. Den Kampf mit einem Unkraut aufzunehmen bedeutet die Selbstverurteilung zu lebenslänglicher Zwangsarbeit. Das Unkraut selber betrachtet sich keineswegs als Unkraut, sondern verweist stolz auf seine Lebenskraft noch an unwirtlichstem Ort. Der Satz: Die Lüge ist weiblich! wächst und wurzelt in allen Winkeln der Menschheitsgeschichte, und aggressivste Bekämpfung kann ihm nichts anhaben. Seine Vernichtung mag gelingen an dem einen oder anderen Ort, aber um welchen Preis! Den Preis verbrannter Erde. Geht das Menschtier mit dem Flammenwerfer mit der Chemokeule über ein Stück Land, um das Unkraut auszurotten, wächst dort zum Schluss überhaupt nichts mehr. Erfolg! schreit das Menschtier und schleicht sich erschöpft davon, seinen Sieg bei einem Umtrunk zu feiern. Kommt am nächsten Tag wieder, den gereinigten Boden mit Aussaat zu befruchten, aber siehe: da wächst nichts mehr. Überhaupt nichts mehr. Der Boden ist nicht gereinigt, sondern zerstört. Das Menschtier müht sich und pfuscht und sucht zu bessern und zu beheben, der Boden bleibt tot. Das Menschtier gibt seine Bemühungen auf und geht endgültig davon, überlässt den getöteten Boden der Sonne und dem Wind und dem Regen. Nach langer Zeit kommt mal wieder ein Wanderer vorbei, aus der Sohn- oder Enkelgeneration der Reiniger. Was sieht er! Ein Wunder! Es wächst doch etwas auf dem Wüsten Land! Ein Pflänzchen hat Wurzel gefasst! Ganz von selber! Was ist das für ein Pflänzchen? Welch Wunder ist das das? Welch Zauber und Glücksfall der Natur?
Das Unkraut, was sonst.
So mag es dem Menschtier gelingen da und dort, das Land von unerwünschten Sätzen zu bereinigen. Die Lüge ist weiblich, zum Beispiel. Wenn die Flammenwerfer und die Chemokeule ihr Werk verrichtet haben, wird kaum etwas übrig bleiben als das Land zu verlassen, es wächst dort nichts mehr, überhaupt nichts mehr. Und wenn nach Generationen ein Wanderer kommt und nachschaut — nun ja, ich muss nichts mehr sagen.
Weil der Satz „Die Lüge ist weiblich“ solch hartnäckige Lebenskraft hat durch alle Zeiten und Räume der Menschengeschichte hindurch, wirken auch die Anhänger primär lügebasierter Konstrukte unbestimmt weibisch, die Anhänger von Verschwörungstheorien zum Beispiel. Es fehlt ihnen an jenem inneren Halt, den das Menschtier nun wieder als spezifisch männlich betrachtet: den entschlossenen Hang zur Wahrheit. Hang zu Abständigkeit Zuwarten und Überprüfen.
Bedacht die Tatsache, dass die meisten Anhänger von Verschwörungstheorien männliche Menschtiere waren und sind, jedenfalls zu Lebzeiten des Jungen, stellt sich die Frage: Inwieweit werden die männlichen Menschtiere dem selbstformulierten Anspruch gerecht, allezeit Parteigänger der Wahrheit zu sein?
Die Frage stellen heißt, sie schon beantwortet haben. In der Mitte des Kosmos gähnt ein Abgrund, an dessen Boden haust die Dämlichkeit des Menschen. Unauslotbar. Der Mensch ist das lügende Tier, und sein Lügen ist eine direkte Funktion seiner Freiheit. Als SIE das Menschtier erschuf, hat SIE ihm die Freiheit geschenkt, und das Menschtier hat niemals gelernt, mit dem Geschenk umzugehen. Hat immer entschlossen den Weg des geringsten Widerstandes eingeschlagen. Probleme Sorgen Nöte Unklarheiten? Einfach lügen, ruft strahlenden Auges das Menschtier, einfach lügen, Problem gelöst. Und die weiblichen Menschtiere vorneweg.
Der Junge wollte das niemals einsehen, deshalb traf ihn das Lügen der Frauen stets bis ins Mark – wenn er es sich überhaupt eingestand. Lieber dachte er sich Entschuldigungen aus. Die bildet sich das ein. Die sieht das so. Die hat falsche Informationen. Die ist von ihrer Freundin beeinflusst. Die Freundin lügt, ja, aber sie nicht. Die dort ist guten Glaubens. Die hier hat es nicht besser gelernt. Die ist eben so erzogen worden. Die dort kann gar nicht anders, sie wird sonst bestraft. Die da hat irgendein Motiv, das ihr selbst nicht recht klar wird. Die hat einfach Angst. Die hat sich im Gestrüpp verwickelt. Die will ihre Freunde nicht enttäuschen, nicht ihre Familie.
Er wusste Millionen solcher Sätze, nur den einen einfachen Satz: Die lügt, weil sie eine Frau ist, und Frauen sind Lügnerinnen – den brachte er nicht über die Lippen. Nicht ums Leben.
Auch das half ihm im Umgang mit Frauen nicht weiter. Das weibliche Menschtier liebt Männer, die Stärke zeigen, und Stärke heißt eben auch, mit dem Lügen der Frauen souverän umgehen können. Sieger bleiben. Ganz bestimmt nicht: Verletzt sein. Ganz bestimmt nicht: zu argumentieren beginnen.
Wenn ein männliches Menschtier mit einem weiblichen zu argumentieren beginnt, denkt das weibliche: Was ist das denn für ein Schlappschwanz? Mach, oder lass es!
Zumal Auseinandersetzungen zwischen männlichen und weiblichen Menschtieren niemals auf Ergebnisse abzielen. Auseinandersetzungen zwischen männlichen und weiblichen Menschtieren zielen auf Endlosigkeit. Jedes Wort gibt das nächste. Höchstens, dass hier mal die Erschöpfung der Parteien der Sache ein Ziel setzt. Vorläufig. Die Kräfte gesammelt, geht die Sache von vorne los.
Das starke Manntier – wie es vom weiblichen Menschtier gewünscht wird – das vorbildliche Manntier, erekter Schwanz auf zwei Beinen, erekter Schwanz von der Fußsohle bis zur Glatze, soll aber nicht argumentieren. Es soll wegstecken und außen an sich runterlaufen lassen. Wenn es zu arg kommt, das Weibchenlügen mit einem knappen Faustschlag beantworten. Auf keinen Fall soll das Manntier richtigstellen zurückweisen klarlegen argumentieren beweisen.
Mit dem Wegstecken oder außen an sich runterlaufen Lassen hatte der Junge seine Schwierigkeiten, und Faustschläge verteilen mochte er erst recht nicht. Er lernte mit der Zeit, kühle Unberührtheit zu imitieren, bis zur Perfektion. In jedem Leben galt er in seiner zweiten Lebenshälfte als der, der sich abwendet. Das interessiert den doch überhaupt nicht. Das geht den doch gar nichts an.
Er ließ kein lautes Wort mehr sich durchgehen. Er diskutierte auch nicht mehr, gab keine Widerworte. Widerspruch entlockte ihm keine Reaktion, Vorwürfe erlebten niemals die Genugtuung seiner Gegenwehr.
Seltsam, dass einer, der als offene Wunde durch seine Leben lief, so virtuos das Muster kalter Unbeteiligtheit geben konnte.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, diese Passage veröffentlicht hier 16.12.2021, © Verlag Peter Flamm 2021)