Schöpfung

„Weit ist die Welt“, erzählt Grand Mère, „und immer ist Anfang. Da ist die Ferne, ortlos dunkles Meer des Anfangs. Und die Ferne ist Amâmaël, und Amâmaël ist die Ferne, das Eine ohne ein Zweites, der Anfang und das Ende, der Sturm und die Stille, die Tat und der tiefe Schlaf zur Mitternacht.

Und da spricht Amâmaël zu sich: Siehe, ganz bin ich die Welt, das Eine ohne ein Zweites, die ausgespannte Schnur, die sich selbst verschlingt. Weit fließt mein Leib von Mitternacht zu Mitternacht. Ich will aus mir hervorbringen ein Zweites, dass ich mich daran erfreue, es zu sehen und seinen Geschichten zu lauschen.

Da erglüht Amâmaël im Gedanken, und der Gedanke gebiert das Werk, und die Glut gebiert die Äonen, und aus den Äonen tritt Zeit hervor, und siehe, da ist Amâmaël und erstreckt sich in die Zeit, wandellos, anfangslos, endlos, von Aufgang zu neuem Aufgang, ein ausgespanntes Tuch.

Und Amâmaël betrachtet die Zeit, die fließende, wohlgerundete, und er hat Wohlgefallen an ihr. Doch die Zeit strömt durch Äon und Äon und klagt: Wehe, kein Ding ist hier, an dem ich mich halten könnte, kein Alter noch Jugend, kein Entstehen noch Vergehen, nicht Aufgang noch Untergang. Wandellos muss ich sein, allein ohne ein Zweites, dass es meiner Berührung gehorche.

Und Amâmaël denkt bei sich: Sie ist ein Weib, das sich mehren will zu ihrer Zeit. Ich will zu ihr gehen und bei ihr liegen, dass nach ihrem Willen Entstehen werde.

Und Amâmaël geht hin und naht sich der Zeit, der strömenden, wohlgerundeten, und er findet Gefallen an ihr und bleibt bei ihr dreimal tausend Jahre und probt die Kraft seiner Lenden.

Und aus dem ersten Mal tausend Jahre entstehen die Erde und die Sterne, der gewaltige Raum und das tiefe Meer, der Regen und die Winde, die tiefe Stille und Donner und Blitz.

Und Amâmaël liegt bei der Zeit, der fließenden, wohlgerundeten, und er denkt: Ich habe Gefallen an ihr, der Lieblichen, Rundgestaltigen. Ich will an ihr proben die Kraft meiner Lenden ein weiter Mal.

Und aus dem zweiten Mal tausend Jahre entstehen die Geschöpfe des Himmels und der Erde, die Tiere des Erdbodens und der Mensch, die Vögel und die Fische, und alles, was darunter und darüber wohnt und lebt.

Und Amâmaël denkt: Siehe, dies beginnt mich zu langweilen. Ich will gehen und mich in die Einsamkeit zurückziehen, auf dass ich meinen Geist betrachte.

Doch die Zeit, die Rundäugige, Wohlgestaltige, sie seufzt und spricht: Nicht allein will ich sein. Bleibe bei mir, und ich will mich dir schenken ein ander Mal.

Und Amâmaël spricht zu sich: Sie ist ein Weib, nicht allein will sie sein.

Und er bleibt bei ihr und probt die Kraft seiner Lenden ein weiter Mal.

Und aus dem dritten Mal tausend Jahre entstehen die Geister der Erde und des Himmels, des Luftraums und des tiefen Meeres, solche, die auf Bäumen wohnen, und solche, die in den Tieren sich verbergen.

Und Amâmaël denkt: Genug ist nun getan, ich will gehen und der Stille meines Geistes genießen.

Und er geht fort in die Einsamkeit, hundert mal tausend Jahre, und geht und genießt der Stille seines Geistes.

Schneeumweht.

Und die Zeit weint und spricht zu sich: Ich bin verlassen von meinem Geliebten, fortgegangen ist die Kraft seiner Mannheit.

Und sie wendet sich traurig und steigt hinab zur Welt und den Menschen.

Und siehe, ein Tal des Friedens ist, wo die Menschen wohnen und die Tiere. Klar strömen die Bäche durch die grünen Täler, und die Tiere liegen bei den Menschen und haben keine Scheu, und die Menschen spielen miteinander und wissen nichts von Angst und Not. Und die Zeit spricht zu sich: Ich bin verlassen von meinem Geliebten, fortgezogen ist er. So will ich gehen zu diesen hier, wo es schön ist.

Und sie nähert sich den Menschen.

Aber als sich die Zeit den Menschen naht, da welken die Menschen hin, die grünen Täler verdorren, die Tiere werden unstet, der Himmel wechselt in Kälte und Wärme. Und die Menschen trauern und fluchen der Zeit, der Wohlgestaltigen, und nennen sie: Tod.

Und die Zeit weint und spricht zu sich: Ausgestoßen bin ich von den Menschen, und bin verlassen von meinem Geliebten. Diese Welt ist eine Stätte der Übel. Ich will gehen und meinen Geliebten suchen, dass er mich tröste.

Und die Zeit geht hin und sucht Amâmaël hundertmal tausend Jahre. Und ihre Gestalt wird zerrissen von den Dornen des Weges, und ihre Füße zerschunden von den Steinen. Und sie wandert durch die Welten, die darüber sind und darunter, oberhalb und unterhalb, und fragt die Geister und die Menschen, die Tiere und Sterne, und sucht und forscht nach Amâmaël.

Und siehe, da sind hundertmal tausend Jahre vergangen. Und die Zeit kommt an ein Schneegebirge, himmelhoch, das versperrt ihr den Weg, und in seiner Mitte, zu Füßen eines eisbedeckten Steines, sitzt Amâmaël und genießt der Stille seines Geistes.

Und die Zeit tritt zu ihm und klagt und spricht ihn an: Hier bist du, mein Geliebter, und bist fern von mir. Wessen bin ich schuldig, dass ich von dir verlassen bin? Noch trage ich den Atem der Menschen an mir, und die Menschen fluchen mir und nennen mich: Tod. Siehe, mein Geliebter, ich leide.

Und die Zeit sinkt hin zu Amâmaëls Füßen.

Und Amâmaël denkt: Das ist die Zeit, die fließende, rundgestaltige, und ihr Leib ist zerrissen von den Dornen des Weges, und ihre Füße sind zerschunden von den Steinen. Sie ist verlassen von mir, und die Menschen fluchen ihr und nennen sie: Tod. Ich bin der Schöpfer dies alles. Ich bin schuldig.

Und Amâmaël verhüllt sein Haupt und sinnt zehnmal tausend Jahre. Dann ermannt er sich, steht auf und spricht zu der Zeit: Auf, erhebe dich. Wir wollen gehen in das Tal der Menschen, und ich will dir Gefährten geben, dass du immer ihres Daseins genießen kannst, denn du bist ein Weib und willst nicht allein sein.

Und sie kommen ins Tal der Menschen, und siehe, da sind alle Menschen tot und alle Tiere, und die Sterne kreisen wandellos, und der Wind geht kalt. Und die Zeit weint und spricht: Wie ists nur, dass sie alle tot sind? Erwecke sie wieder, mein Geliebter!

Und Amâmaël spricht: Das ist immer euer Los.

Und Amâmaël rührt die Zeit an und senkt sie in einen tiefen Schlaf. Und er nimmt aus ihr eine Rippe, und spricht zu sich: Ich will ihnen einen Herrn geben, dass er ihnen helfen möge nach seinem Vermögen. Aber ich will ihn nicht zu mächtig machen. Untertan bleiben soll er immer der Zeit, der strömenden, wohlgestaltigen.

Und siehe, aus der Rippe formt er Vautrin und haucht ihm Leben ein.

Und Vautrin erwacht und schlägt die Augen auf. Und Amâmaël spricht zu ihm: Du bist der Herr der Welt. Siehe zu, dass die Menschen wandeln und sich mehren und sich Geschichten erzählen, damit die Zeit, die fließende wohlgestaltige, ihren Trost finde.

Und Amâmaël wendet sich und bricht von einer Eiche einen großen Stab, denn er will wandern. Und er gürtet seine Lenden und spricht zu Vautrin: Siehe zu, dass sie leben. Du bist ihr Hort.

Und er wendet sich und schreitet hinweg.

Und Vautrin schaut und spricht zu sich: Gegangen ist, der mich erschuf. Ich will mich aufmachen und tun nach seinem Geheiß.

Und er schreitet hin in das Tal der Tränen, und dort sind nur die Toten, und eine große Stille ist unter dem kalten Wind, und an den Steinen nagt die Ewigkeit. Und Vautrin spricht zu sich: Wie soll ich es anfangen, dass sie wandeln und sich mehren und sich Geschichten erzählen, damit die Zeit, die fließende, wohlgestaltige, ihren Trost finde?

Und als er geht und so spricht, findet er die Zeit, die liebliche, runde, in tiefem Schlaf, und es fehlt ihr eine Rippe. Und Vautrin spricht zu sich: So will ich es machen. Ich will hingehen und sie eins werden lassen, auf dass sie immer Gefallen aneinander haben.

Und Vautrin geht hin und sammelt die toten Menschen und die toten Tiere, die Felsen und das Moos, die Pflanzen und den Wind, den Regen und das tiefe Meer. Und diese Arbeit dauert hundertmal tausend Jahre.

Und nicht rastet Vautrin. Und als er fertig ist, ist da ein gewaltiger Haufe, von Anfang bis Ende, vom Aufgang zum Untergang. Und Vautrin spricht zu sich: Versammelt ist nun alles hier, beendet das erste Werk.

Und er geht und nimmt und trägt die Zeit, die schlafende, runde, wohlgestaltige, und trägt sie zu dem Haufen und vermengt alles, dass er es aufs Neue forme. Und diese Arbeit dauert ein ander Mal hundertmal tausend Jahre.

Und nicht rastet Vautrin. Und er formt aufs Neue die Tiere und die Menschen, die Pflanzen und den Wind, den Regen und das Meer, die Sterne und den Wald, und dann baut er die Städte, die großen Städte und die Dörfer, und er denkt bei sich: Mehren werden sich die Menschen, so will ich gehen und ihnen die Städte groß bauen.

Und er geht und baut die Städte groß, und die anderen klein, und einige wieder sind sehr groß, dass ihr Ruhm unter den Menschen weit ist. Und so groß sind sie, dass die Menschen umherstreifen darin und kein Ende finden des Neuen, das ihre Augen sehen.

Und siehe, da ist Vautrin fertig und haucht allen Geschöpfen das Leben ein, dass sie sich mehren und vergehen, entstehen und sterben, und sich Geschichten erzählen, und in allem, was Mensch ist und Tier, was Baum und Pflanze, was Fels und Meer, ist ein Stück von der Zeit, der strömenden, wohlgestaltigen, dass sie sich sein erfreue und sich daran tröste.

Aber als den Menschen und den Tieren und den Pflanzen und allem was da lebt und webt und Odem hat das Leben gegeben ist, siehe, da wissen sie nicht, wie sies anfangen sollen, sich zu mehren und die Städte zu bevölkern und die Wälder und die Länder und die Meere. Und sie gehen hin und sprechen zu Vautrin: Wir wissen nicht, wie wirs anfangen sollen, dass wir uns mehren und die Städte bevölkern und die Wälder und die Länder und die Meere. Du bist der, der uns helfen soll.

Da ermannt sich der Vautrin und geht ein in die Gestalt der Menschen und zeigt ihnen, wie sies machen sollen, und dann geht er ein in die Gestalt jedes Tieres und jeder Pflanze und allens, was da lebt und webt und Odem hat unter dem Himmel, und allen zeigt er, wie sies machen sollen. Und das sind die Geschichten von Vautrin, wie er eingeht in jedes Geschöpf, und von seinen Listen und Abenteuern, damit ers ihnen recht zeige, wie sies machen sollen.

Und diese Arbeit dauert ein ander Mal hundertmal tausend Jahre.

Und da er fertig ist, da kennen sich die Menschen und die Pflanzen und die Tiere, ein jedes nach seiner Art, und in jedem ist ein Stück von der Zeit, der strömenden, wohlgestaltigen, und so kömmts, dass die Menschen aneinander Gefallen haben, und denken, wenn sie einander sehen: Siehe, lieblich ist dieser und jene und wohlgestalt, nachfolgen will ich ihm und ihr in ihren Spuren, damit wir uns erkennen und uns mehren, denn ihr Bild ist in meinem Herzen.

Und also tut ein jedes Wesen, nach seiner Art.

Und Vautrin sieht, dass sein Handeln gut ist, und er lebt unter den Menschen und den Tieren und den Pflanzen, im Meer und im Himmel und auf der Erde, und wandelt in vielerlei Gestalt, und das sind die anderen Geschichten von Vautrin, wie er unter den Menschen und den Pflanzen lebt und unter den Tieren, und von seinen Listen und Abenteuern.

Und in allem, was lebt und webt und Odem hat unter dem Himmel, ist ein Stück von der Zeit, der fließenden, wohlgestaltigen, und sie erfreut sich sein und tröstet sich daran und lebt das Leben, vom Aufgang bis zum Untergang, vom Ende bis zum Anfang, von Ewigkeit zu Ewigkeit.“

Also sprach Grand Mère.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, diese Passage veröffentlicht auf dieser Seite 15.12.2021, © Verlag Peter Flamm 2021)