… aber Entgleisungen, Ausrutscher, „Vorfälle“ – die gab es in diesem Land zu dieser Zeit immer und überall. Immer und überall und an praktisch jeder Straßenecke verlor mal einer die Nerven, schrie los schlug zu. Es war eine Bevölkerung aus feigen Schweinen, und mit dem Zuschlagen ließ man sich freie Hand, wenn Schwächere zur Verfügung standen, Kinder oder Tiere. Wenn Gefahr bestand, dass das Opfer zurückschlagen könne, wusste man sich in der Regel zu beherrschen.
Und dennoch waren die Entgleisungen alltäglich.
Das plötzliche Aufbrausen in der Straßenbahn, das Zuschlagen am Kneipentresen, die nicht mehr kontrollierbare Wortflut in einer Theaterpause, die nachher keiner mitangehört haben wollte – dies alles war tägliches Brot, in diesem Land in dieser Zeit.
Der Lehrer, der vor seiner Klasse den Lehrplan vergaß und plötzlich unter schleuderndem Gelaber Wortfluten ergoss über die geschorenen Strubbelköpfe der kleinen Jungs, Wortfluten von Schüssen und soldatischer Anständigkeit – Alltag. Immer versicherten sie, wie schrecklich alles gewesen sei, und wie man betrogen worden sei. Und wie die Kinder es mal besser machen müssten. „Ihr seid jetzt unsere Hoffnung!“ – den Satz hatte der Junge gehört, wie viele Dutzend Male! Und wenn er die irr brennenden Augen dabei sah, wusste er, ich bin nicht gemeint, auf mir ruht keine Hoffnung.
Die Hassausbrüche im Friseursalon, immer schnalzender und schnelzender, jagend kreisum wie ein im Übermaß gepeitschter Kreisel – Alltag. „Früher hätte man gewusst, wie sowas regeln. Ab ins Arbeitslager mit denen!“ Das Wort vom Arbeitslager war Allgemeingut, der Junge begriff erst als Erwachsener, dass es sich um eine Kodierung handelte, die Vernichtungslager waren gemeint, in denen die Richtigen Millionen der von ihnen zu Falschen erklärten ermordet hatten. Er kannte auch den lauernden Blick auf das zuhörende Kind, der Junge: Denkt der auch das Richtige? Wird der auch richtig erzogen, dass er das Richtige denkt? Können wir uns auf den verlassen? Was ist das überhaupt für einer? Ist das ein Junge oder ein Mädchen?
Die plötzlichen Schreiausbrüche eigentlich zu Höflichkeit verpflichteter Verkäufer hinter ihren Tresen – Alltag. Überhaupt die Tresen – Alltag. Kriegsbeschädigte mit Armamputation und Krüppelhass hinterm Behördentresen – Alltag. Schreihasse Portiers, die Zugänge zu Fabriken bewachend, buckelnd vor den ihnen bekannten Machthabern, unkontrolliert losschreiend gegen den arglos Vorübergehenden – Alltag. Hausmeister! In jedem öffentlichen Gebäude in jeder Schule jeder Behörde jedem Universitätsinstitut jedem Kaufhaus selbst jedem Mietshaus: ein Hausmeister, über sein Mächtlein verfügend, schreiend eindringend niederbrüllend, wo immer als Antwort ein Faustschlag ins Gesicht nicht zu befürchten stand.
Das war im Grunde, was der Junge nach reiflicher Überlegung denen nachtrug, die über die Grenzen hereingequollen gekommen waren, um dem Hineinschießen in Gesichter ein Ende zu setzen: dass sie mit den Faustschlägen zu sparsam umgegangen waren.
Prügel war die einzige Sprache gewesen, die das Scheißvolk wirklich verstanden hatte. Es waren Millionen unter ihnen gewesen, die des Galgens würdig gewesen wären. Warum hatte man sie nicht gehängt? Wären immer noch genügend übrig geblieben. Es hatte ihrer um die achtzig Millionen gegeben. Wäre die Welt, um zwanzig Millionen von diesem Vieh weniger, wirklich ärmer gewesen?
Zwanzig Millionen, das war die vermutete Zahl der Ermordeten gewesen, die die selbsternannten Richtigen auf dem Gewissen hatten. Wohlgemerkt, nicht zwanzig Millionen unter Einschluss der kämpfenden Truppen. Nein. Zwanzig Millionen Unbewaffnete, zwanzig Millionen Wehrlose.
Die genaue Zahl wurde bis zu den Toden des Jungen niemals etabliert. Die Forscher die Historiker die Lokalhistoriker suchten und gruben und forschten. Das mit dem Graben ist durchaus wörtlich zu verstehen, manches Massengrab wurde ausgehoben und untersucht. Die Opfer hatten in den Mordlagern Flaschen im Boden vergraben, in den Flaschen Zettel, darauf hastig notiert, was ihnen widerfuhr. Flaschenposten. Die Überlebenden gründeten dann Verbände. Forschten und stellten Listen auf. Die Geflohenen und wieder Zurückgekehrten drangen auf Auskunft. In den Ländern jenseits der Grenzen wollte man sich mit dem Schweigen der Richtigen – niemand hat was davon gewusst, keiner von uns war dabei – nicht zufrieden geben. Da und dort robotete verbissen ein Einzelkämpfer in den widerwilligen Behörden, zuweilen als Ermittler, als Staatsanwalt, befugnisbewehrt, über den tuschelten die Richtigen, hinter der vorgehaltenen Hand: Der wühlt, der zersetzt. Ist wahrscheinlich einer von denen. Natürlich ist er einer von denen. Ein Falscher ein Miesmacher ein Nestbeschmutzer ein Zersetzer ein Schädling. Ein Negativer. Einer von denen, die sich selbst nicht leiden können.
Man rechnete und addierte. Kämpfte mit den Zahlen. Anders als die Worte verlangen die Zahlen Definiertheit. Die Worte erzählen von dem einen Erschlagenen, und das ganze Grauen der Welt eint die Planeten. Die Zahlen wollen sich selber, und sie wollen sich selber richtig. Man musste zählen, man musste kalkulieren. Ermitteln. Da und dort schätzen. Zu den Schätzungen musste man immer wieder zurückkehren, denn die falschen Schätzungen potenzieren sich, unter dem Strich wird das Ergebnis immer falscher. Man schätzte lieber zu niedrig als zu hoch.
Manche Rechnungen kamen zu dem Ergebnis: dreizehn Millionen Opfer. Andere: zwanzig Millionen.
Und es stellte sich ja nicht nur die Frage nach den manifest Ermordeten, nach den Erschlagenen Ertränkten Verbrannten Erschossenen Erhängten Verhungerten Vergifteten Erstickten. Es stellte sich auch die Frage nach denen, die nachträglich noch umgekommen waren: weil die Ärzte und die Krankenpfleger tot waren, weil niemand mehr Essen herbeischaffte, weil die Hoffnung davongeflogen war, fort über alle Hügel. Es stellte sich auch die Frage nach den Kindern, die nie gezeugt wurden, weil die Richtigen ihre Eltern totgeschlagen hatten.
Zwanzig Millionen zu Falschen Erklärte, ermordet von den selbsternannten Richtigen. Die Richtigen hatten sich berechtigt gefühlt zu solcher Zuschreibung. Wir die Richtigen, mit dem Lebensrecht. Diese dort die Falschen, lebensunwertes Leben. Wir haben das Recht, ihnen dieses lebensunwerte Leben zu nehmen, denn wir sind die Richtigen.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Abschnitt veröffentlicht 12.12.2021, © Verlag Peter Flamm 2021)