Die Weiden, Schluss

Die Sonne sank, weit jenseits des Flusses, dort, wo die Stadt lag. Braun und golden färbte sich das Licht, der Fluss dunkelte noch, grün flossen die Algen im Wasser.

„Schau, wie der Ball geht zur Neige“, flüsterte Grand Mère, „der Ball aus Feuer, die Kugel aus Glut, Vautrin hats geschaffen, Vautrin schuf es gut …“

„Das ist das Blut des Abends“, antwortete Erlanda, „es nährt die Dinge, sänftigt die Menschen.“

Die langen Trauerhaare der Weide erzitterten, ihr lichtes Grün übergossen von Wolken aus Purpur, und war da am anderen Ufer Warlams Haus, verwandelt in Marmor, in den Bäumen, durchsichtig leuchtend, errötend … Stimmen klangen herüber, von ferne, eine helle Frauenstimme, vielleicht Magdalenas, vielleicht Inges, nicht zu verstehen, gleich war’s wieder still, der Fluss murmelte. Am Dachfirst begann eine Amsel zu singen, die Perlen tropften hinunter ins braune Wasser, rieselten hinunter, da trieb sie die Strömung fort. Schau, wie der Ball geht zur Neige, der Ball aus Feuer, die Kugel aus Glut.

Grand Mère hängte sich ein in den Arm Erlandas. „Sieh, wie ruhig es ist über dem Waser, zum Abend, es schlafen die Weiden, es träumen die Weiden, sie haben es gut …“

„Sie haben es gut, die Sonne, die wärmt sie …“

„… das Wasser, es tränkt sie, sie haben es gut …“

„Sie nähren die Menschen, sie helfen den Menschen …“

„… wer‘s weiß, der fasst es.“

„Wir tragen die Last …“

„… im Korb aus Ruten.“

„Nimm die Ruten, die Ruten, die schneide …“

„… und leg sie ins Wasser.“

„Das Wasser, das macht es.“

„Da sind die Ruten, geschmeidig und biegsam …“

„… sie halten die Körbe, sie tragen die Wände.“

„Die Ruten.“

„Macht Wolle aus Samen, die sammle, die sammle …“

„… die seidenen Haare, trägt hurtig der Wind, die sammle, die sammle …“

„… stopf Kissen damit, stopf Polster, der Schlaf kommt zur Nacht.“

„Das machen die Weiden.“

Die Trauerweide stand still, die Blätter gehüllt in Glut, und lauschte. Erlanda drängte sich dicht an Grand Mère, schloss die Augen, und murmelte:

„Gehst hin zu den Weiden, gehst hin zu den Weiden, doch achte des Tags: zerbricht das Eis, da klirren die Schollen, da wartest zum Neumond, und Neumond muss sein: gehst hin zu den Weiden, in schweigender Nacht, und sagst kein Wort. Das Eis zerbrochen, und Frühling kommt nah, und Neumond ist worden, zum ersten Mal, das Eis zerbrochen: das ist der Tag, da geben die Weiden. Gehst hin zur Nacht, doch sprichst kein Wort, vertan ist der Zauber, entschlüpft dir ein Wort. Gehst hin zu den Weiden, trägst Weidenkorb, der Korb, aus Weiden muss sein, trägst glänzendes Messer, das wasch im Fluss, im Fluss, aus dem trinken die Weiden, das Wasser muss sein, kein andres. Gehst hin zur Nacht, und sprichst kein Wort, und trägst den Korb, und wäschst das Messer, und gehst zu den Weiden. Suchst die Zweige: drei Jahr müssen die haben, drei Jahr übern Tag. Gehst hin mit dem Messer, streichst Klinge, die blanke, am Stamm entlang, so wissen‘s die Weiden, der Schrecken bleibt fern. Gehst hin mit dem Messer und schabst die Rinde, ganz fein muss es sein. Und füllst den Korb, und wendest dich wieder, gehst heim zum Ort, kein Wort sprichst du doch. Dort stellst den Korb wohl hinter die Schwelle, dort muss er stehn, bis morgens zur Helle. Und gehst zu Bett und schläfst bis zum Morgen. Am Morgen gehst hin und holst dir den Korb: zerhackst jetzt die Rinde, so fein es mag gehen, zerhackst die Rinde. Und breitest sie aus, die Krümel, die Rinde, auf hölzernem Brett, die stellst zum Trocknen, doch fern vom Feuer, zum Trocknen am ruhigen Ort. Und lässt sie trocknen. Dann sammelst sie ein, in irdnes Gefäß, das verschließt du wohl, verschlossen muss sein. Und stell‘s beiseite. Kommt jetzt der Tag, kommt der Tag, huh, der böse, dass Vautrin uns beschütz, kommt jetzt der Tag, ist Fieber im Haus: gehst hin zu dem Topf, holst Rinde heraus, weichst ein über Nacht, und nimmst das Wasser vom Weidenfluss, das Wasser, das nimmst du, weichst ein die Rinde, ein Löffel ist richtig, ein Löffel voll und voll die Tasse mit Weidenwasser, ein Löffel und eine Tasse. Das weichst über Nacht, am Morgen gehst hin, gehst hin und kochst auf: die Rinde, das Wasser. Seihst ab die Rinde, gib’s heiß zu trinken, dem Kranken, dem Fiebergeplagten. Zwei Tassen gibst ihm am Tag, auch drei dürfen‘s sein, da schwindet das Fieber, huh, schwindet das Fieber, geht weg mit dem Schweiß. Das machen die Weiden, das macht das Wasser, Vautrin hat‘s gegeben.“

Grand Mère wiegte den Kopf, die Augen halb geschlossen, und fiel ein, murmelnd, im Singsang: „Kannst weiter noch gehn. Da sind die Weiden, die Weiden sind gut, da sind auch noch Kräuter, die lieben die Weiden. Gehst hin in den Wald, gehst hin an die Wege, gehst hin an den Bach, gehst hin auf die Weide, da sammelst du dir: vom Enzian die Wurzel, die Wurzel muss sein, das denke du wohl, kannst sammeln, wannst willst. Gehst hin zur Wiese, doch feucht muss sie sein, da suchst den Wasserhanf, wenn’s hochsteht ist gut, kannst nehmen die Stängel, die Blätter, doch meide die Blüte. Dann nimmst die Blätter vom Fieberklee, doch nur die Blätter, des achte du wohl. Und hol dir die Blätter, die Stängel, die Kräuter, Vautrin hat’s geschaffen, Vautrin uns zur Hilf. Gehst heim mit den Kräutern, du trocknest sie all. Trocknest sie all. Hebst auf sie im Krug, du hältst sie getrennt, ein jedes sein Krug, so soll es nun sein. Und kommt nun das Fieber, Vautrin sei davor, gehst hin zu den Kräutern, da holst du dir Rat: nimmst jetzt von den Weiden, der Rinde, der guten, drei Teile, des achte, drei Teile, dann nimmst von der Wurzel des Enzian ein Teil, ein Teil, und mische es unter, ein Teil auch vom Rosmarin, ja, nur einer. Und zwei Teile sind’s, die nimmst du vom Fieberklee, und zwei Teile vom Wasserhanf, und mischst alles unter, mischst alles unter, dass gut ist verteilt, und gut vermischt muss es sein. Dann nimmst von der Mischung ein Löffelchen voll, nur eines, und gibst‘s in kalts Wasser, ne Tasse voll, so soll es sein. Und wart‘st über Nacht, am Morgen kochst‘s auf, da gibst du’s zu trinken, gib drei Tassen am Tag, auch zwei mögen reichen. Da geht das Fieber, es schwindet hinweg. Auch Reißen, das schwindet, wenn’s nagt in den Gliedern, wenn’s kneift in den Armen und beißt in den Beinen, geht weg von dem Trank. Das machen die Kräuter, das macht das Wasser, Vautrin hat’s gegeben.

Die beiden alten Frauen saßen Arm in Arm auf der Bank, dunkel wurde es schon, sie hielten die Augen geschlossen, wiegten sich sacht, mit murmelnden Stimmen. Flüstert Erlanda: „Hast Wunden, Furunkel, Geschwüre, hart ist der Schmerz, ist Eiter, ist Not, gehst hin zu den Töpfen, gehst hin zu den Krügen, holst Rinde von Weiden, holst Kohle von Linden, von Holze der Linden, die Kohle muss sein, mischest die Rinde, von Weiden die Rinde, und Kohle der Linde, mischst durch, dass gleich sind die Teile, dann nimmst du den Mörser, zerstößt das Gemisch, mit Mörser und Stößel, zerstößt das Gemisch, ganz fein muss es sein, zerstößt es zu Pulver. Trag‘s auf die Wunden, den Eiter, Geschwür. Trag‘s auf, gib drüber Verband, mach’s neu jeden Tag. Dauert drei Tage, ist fertig die Not, verheilt das Geschwür. Das machen die Weiden, das machen die Linden, Vautrin hat‘s gegeben.“

Grand Mère hatte die Lippen murmelnd mitbewegt, die Worte verfolgt, jetzt setzte sie fort: „Sind schwer dir die Füße, sie tragen dich kaum, war lang dir der Tag, die Pein ist groß: geh hin zu den Krügen, geh hin zu den Töpfen, da holst du dir Beifuß, Blätter von Weiden, und holst dir das Kraut von Farn am Wege. Nimmst eine Handvoll von jedem, hast sie getrocknet im Winter, nimmst sie frisch im Sommer, wie Vautrin es gefügt. Nimmst du die Kräuter, eine Handvoll von jedem, kochst auf im Wasser, ein Eimer voll, lässt ziehen, lässt ziehen, dann seihst du ab, streckst rein die Füße, so heiß du’s kannst tragen, geht weg der Schmerz, geht weg die Lahme, hilft auch beim Reißen, wenn’s kneift in den Gliedern, gibt Hilfe, gibt Lindrung. Das machen die Kräuter, das macht das Wasser, Vautrin hat’s gegeben.“

Ganz dunkel war es geworden, halb saßen Grand Mère und Erlanda im Schlaf. Der Fluss strömte zwischen den Weiden, Gluckern sprang auf, gelegentlich, verschwand im Murmeln. Fort war die Sonne. Ein Licht brannte in Warlams Haus, leuchtete gelb und hell im Dämmer, im grauen Dämmer über dem Wasser, versank vor den Weiden. Stille war, und schwiegen die Frauen.

Von der anderen Seite her tönten Schritte, erst knirschend, auf dem Uferweg, dann hohl, als sie die hölzerne Brücke betraten, zögernd, und Gabrieles Stimme rief: „Mutter? Bist du dort drüben? Und Grand Mère? Wir suchen euch!“

Die beiden alten Frauen öffneten die Augen, Erlanda hob den Kopf, und sammelte sich, und rief hinüber, mit halber Stimme: „Wir sind hier. Wir werden kommen.“

„Ja“, sagte Grand Mère, „gehen wir. Gehört habe ich viel, gelernt von deiner Weisheit. Des sei dir Dank.“

„Mehr gelernt habe ich von dir“, antwortete Erlanda, „wahrhaftig, weit bist du gereist, viel hast du gesammelt des Wissens. Lange werde ich zehren vom Weistum, das dein Besuch mir gebracht. Eröffnet hast du mir die Schätze deines Wissens. Des sei dir Dank.“

Ächzend standen sie auf, steif die Knochen, die alten Knochen, schritten zurück den Weg, zurück zur Brücke.

Und die Weide stand da, still, gebeugt über die Bank, und bedachte, was sie gehört.

(Peter von Mundenheim, Schluss der vorgestern begonnenen Passage aus einem unveröffentlichten Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht 11.12.2021, © Verlag Peter Flamm 2021)