Höhlen sind gute Orte; man weiß, wie sich zu verhalten, Spähen nach draußen, Sicherheit drinnen.
Eluard und Waldemar hockten unter dem wurmstichigen Tisch in Warlams Wohnraum; eine schwere, doch zerschlissene Brokatdecke hing über ringsum bis fast auf den Boden, und gesprächig unterhielten sich mit dem Saum nackte Füße, mit winkenden und schnipsenden Zehen, denn am Tisch saßen die Erwachsenen und besprachen sich.
Also war es dunkel in der Höhle, dunkel und gut. Von oben, durch die Tischplatte, drang Geschabe und Gemurmel, Hände scharrten, Stimmen wussten mancherlei, Gelächter schütterte.
Eluards Gesicht schien blass in dem Dämmer; er war so zart und hell, auch schüchtern, er sah Waldemar an und sagte nichts, spielte nur unruhig mit einer gläsernen Kugel, in der grüne Schlieren woben.
„Du kommst von weit …“ sagte Waldemar versuchsweise.
„Ja …“, antwortete Eluard.
„Und dich haben immer andere Leute hierher gebracht?“
Eluard nickte.
„War das nicht schlimm?“
Eluard wiegte den Kopf, dann gab er sich einen Ruck und sah Waldemar voll ins Gesicht; und schwieg.
So ging es nicht.
„Du hast eine schöne Kugel da“, fing Waldemar wieder an. „Zeigst du sie mir?“
Eluard gab sein Spielzeug her und schaute zu, wie Waldemar sich damit beschäftigte; das Glas war kühl und glatt.
„Wo hast du sie her?“ fragte Waldemar.
Eluard schlug ein Bein unter, indem er den Knöchel mit der Hand umfasste, und antwortete: „Also … das war in einer großen Stadt, und ich hab gewohnt in einem großen Haus, weißt du, und sie haben mir das geschenkt. Sie haben mir noch mehr geschenkt, noch viel mehr, ich kann es dir zeigen, ich hab alles mitnehmen dürfen …“
Er nahm es als gegeben, dass er reisen müsse, und leben bei stets anderen Menschen, aber er trug sie mit sich herum, all die Abschiede, adieu, vergiss uns nicht, die hastig weggewischten Tränen, das Winken, die Müdigkeit der Aufbrüche, am frühen Morgen.
Waldemar sah ihn an und dachte, wie schön sein Vater gewesen sein müsse.
„Du wirst jetzt mit uns fahren“, sagte er, „ganz lange … bestimmt, dies Jahr und dann noch das nächste, wie fahren bis Dorthinwoduherkommst, nach England … das ist eine Insel, sagt Grand Mère, und Grand Mère weiß alles.“
Er war stolz, dass er so viel zu sagen wusste, aber dann fiel ihm ein, dass Eluard niemanden kannte, dort, wo er hinfuhr, Verwandte würden das sein, doch er hatte sie nie gesehen …
!Weißt du“, sagte er etwas verlegen und mit heller Stimme, „ich kenne meine Eltern auch nicht … sie sind tot.“
„Oh“, sagte Eluard leise, „sind das nicht deine Eltern? Ich hab gedacht …“ Und er deutete mit einer vagen Kopfbewegung dorthin, wo Magdalenas Füße unter der Tischdecke hereinschauten in die Höhle.
„Nein, ja“, sagte Waldemar, „nicht meine richtigen. Sie haben mich aufgenommen, und jetzt gehör ich zu ihnen, weißt du, aber meine anderen Eltern … die ich zuerst hatte … die sind gestorben, an einer Krankheit … und Grand Mère und Aslan, die haben mich aufgenommen, und jetzt sind sie meine Familie, ja, ich bin das Kind, so ist es, weißt du.“
Eluard sah ihn an und verstand es, dann fragte er: „Und deine alten Eltern, erinnerst du dich noch?“
Waldemar schüttelte den Kopf, dass der ganze Leib wackelte. „Gar nichts weiß ich“, sagte er. „Ich war noch zu klein, sagte Grand Mère.“
Eluard nickte. „Ich war mal bei Leuten … die in der großen Stadt, die mir die Kugel da geschenkt haben“ (Waldemar hielt sie immer noch in der Hand), „die … na ja, ich war bei denen, und ich hatte ein richtiges Zimmer, mit anderen Kindern, da waren noch zwei, und wir haben immer miteinander gespielt, jeden Tag, und da war der Großvater, Großvater Rombard, der hat immer Geschichten erzählt, jeden Abend, da haben wir das Feuer angezündet, im Kamin, und der Großvater Rombard hat Geschichten erzählt, die weiß ich noch, und …“
Er brach ab und sagte nichts mehr. Es war nicht so, dass er Tränen hatte in den Augen, aber er senkte den Kopf, und da war etwas, das längere Dauer hatte als Tränen, etwas, das sich in die Zeit erstreckte und im Wechsel der Dinge den Verlust fühlte, die Unwiederbringlichkeiten der Tage.
Waldemar, er sah jeden Tag den Strom der Welt wachsen und schwellen, zuverlässig Neues bringend, eine Quelle des Glücks und der Offenbarungen, der Funde ungeahnter Dinge; aber er spürte wohl auch den Stachel, der in dem Weiterfließen lag, im Zurücklassen, im Weitergehen und sich Losreißen, und für einen dunklen Augenblick ahnte er, was Eluard bewegte; doch gleich blickte er sich wieder um und dachte an morgen.
„Du, wir werden immer zusammen fahren, im Wagen“, sagte er. „Du wirst sehen, wie schön das wird – ich zeig dir alles, ich hab einen Platz bei der Baumwolle, da darfst du auch hin, ja, und dann sind da die Ochsen, die werden dir gefallen, du darfst sie streicheln, wenn du willst, der ganz große, der heißt Moses Maimon, wenn ich größer bin, darf ich ihn lenken, hat Aslan gesagt, und du, wir werden zusammen spielen, ich hab immer nur in den Dörfern mit den anderen Kindern gespielt, weißt du, wenn wir gehalten haben, um zu verkaufen, aber auf den Wagen waren nie andere Kinder, das wird schön, ganz bestimmt …“
Er hatte sich in Aufregung geredet und sah Eluard an, erwartungsvoll, freute der sich nicht auch, er musste doch sehen, wie schön es werden würde!
Eluard lächelte schüchtern; er war höflich, wollte niemanden verletzen, er sah Waldemar an und suchte zu erforschen, was jener von ihm zu hören erwarte; das würde er dann sagen, wenn es nur irgend anging, ganz gewiss, damit er glücklich sei, denn unglücklich sein ist schlimm, das wusste Eluard.
Waldemar lächelte zurück und bedachte sich, ahnungsvoll, dass er das helle Kind werde beschützen müssen – jawohl, das würde er tun, das war seine Aufgabe, und er fühlte, dass er wachsen würde, bestimmt, ein gutes Stück.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seites 07.12.2021, © Verlag Peter Flamm 2021)