Angst und Freude

Der Junge dachte nach, über die gewundenen Wege, über die gebahnten Wege, über die geraden Wege. Über die Wege, die zum Sieg, und die Wege, die zur Wahrheit führen.

Er erkannte: Siegen, das ist das Merkmal der Niedrigen. Den Niedrigen gilt der Sieg als Ausweis ihrer Richtigkeit. Sie brauchen keinen anderen. Sie sagen: Wir haben doch gesiegt, oder? also sind wir auch die Richtigen.

Er dachte: Ich hab die gewundenen Wege geliebt, immer. Die gewundenen Wege hinein ins Dahinter der Bibliotheken, die Wege hinein ins Dahinter der bedruckten Seiten, die Wege hinein ins Unvorhersehbare. Weg war für mich immer Weg ins Unbekannte hinein. Wohin führt dieser Weg? Den hat doch jemand gebaut! Nicht immer. Da sind die Tierpfade, und die natürlichen Falten im Gelände. Die kletternden und holpernden Steige, die Bachufer entlang. Die gebahnten Flächen im Ufersand der Seen. Den Meeresstrand entlang.

Wege.

Die Welt ist voller Wege.

Aber verlockend sind nur die, deren Ende du nicht kennst. Die sind verlockend und verlohnend.

Die gebahnten Wege, hin zu bekanntem Ziel, die lohnen nicht.

Immer hab ich mich ans Klavier gesetzt und die Stücke gespielt, die ich noch nicht kannte. Hab mir die Noten angesehen, und wenn ich fand, viel zu schwer für mich, hab ich mich erst recht darüber her gemacht.

Ich hab immer Angst gehabt.

Hab ich vielleicht immer deshalb Angst gehabt, weil ich immer die unbekannten Pfade entlang gestromert bin? Gespäht hab in unbekannte Gesichter?

Hab mich vor das leere Blatt Papier gesetzt, ohne je zu wissen, was nach drei Stunden stehen wird auf dem Papier, hab die Sätze nicht gewusst, die ich doch selber schreiben würde.

Nichts hab ich gewusst, niemals hab ich irgendetwas gewusst.

Vielleicht kein Wunder, dass ich immer Angst hatte.

Wär gern das Kind gewesen, das mit leuchtenden Augen stürzt in den Morgen, den immer goldenen Morgen.

Im goldenen Morgen warteten stets die Schläger auf mich. Mir ins Gesicht zu treten, war ihre Morgenröte, und ihr Abendsonnenglanz.

Und das Gold meiner Tage? Die gewundenen Pfade. Die Wege hinein ins Abendgrau, hinein ins Dämmer der unbekannten Gassen.

Auf allen Wegen übrigens Grinser. Bin keinen unbekannten Pfad je lang, es kam mir nicht ein Grinser entgegen.

Wo kommen die nur immer her?

Wo alles Ungeziefer herkommt.

Creatio ex nihilo.

Die Grinser wussten immer: dieser Pfad ist unserer. Was will der hier? Was hat der hier zu suchen? Wo kommt der überhaupt her? Wie der schon aussieht! Gar nicht wie wir. Wir sind die Richtigen, das sieht man uns schon an. Der ist ein Falscher, das sieht man dem schon an.

Im Alter hatte der Junge stets Räder zwischen oder unter den Beinen, um schnell aus der Reichweite der Richtigen zu verschwinden.

Die Angst hat recht gehabt, dachte der Junge. Die Angst war immer gleich. Das Geander aber hat mir versichert, wir sind nicht gleich! Wir sind durchaus unterschiedlich, wir sind immer was Neues.

Wenn die immer was Neues waren, warum war dann meine Angst vor denen immer gleich?

Wir sind alle anders, versicherte das Geander, wir haben nur eines gemeinsam, und das bleibt immer gleich: Wir lehnen dich ab! Alle alle lehnen wir dich ab!

An uns kann das also nicht liegen, versicherte stets das Geander, das muss mit dir was zu tun haben, willst du das denn gar nicht einsehen?

Nein, ich wollte es niemals einsehen ich werde es niemals einsehen. Ich war immer der, der zur Tür hereintritt ins Zimmer, da alle schon sitzen. Und alle stöhnen und fragen: Was will der jetzt wieder, was ist das jetzt wieder für einer? Den lehnen wir ab. Den muss man doch einfach ablehnen.

Ich hab denen immer geglaubt, dass mit mir was nicht stimmt.

Ich hab denen niemals geglaubt, dass mit mir was nicht stimmt.

Immer haben sie angefangen zu beweisen und darzulegen, und schließlich hab ich nicht mehr zugehört.

Hab hinausgeblickt in IHRE Welt, und hab gesehen, dass IHRE Welt immer neu ist, immer neu in jedem Augenblick.

Nur seltsam, dass meine Angst nie zur Ruhe kam.

Nur seltsam, dass ich meine Angst gar nicht von Freude unterscheiden kann.

Nein, das vermochte er nicht.

Wenn er hinauszog in die Nachtstraßen, vielleicht gewunden herumlungernd um das Haus, da die Sylphide wohnte, und empfing den Nachtschein der Straßenlaternen, und wirklich noch war, was er zeitlebens doch blieb, nämlich ein Junge: da schlug ihm das Herz hinauf in den Hals.

Angst? Freude?

Wenn er die Büchertasche trug nach Hause, gefüllt mit Seiten des Unnachahmlichen, jede einzelne ein Portal hinaus ins Unbekannte: da schlug ihm das Herz hinauf in den Hals.

Angst? Freude?

Wenn er saß vor seinem leeren Blatt Papier, oder vor seinen elektronischen Spielzeugen, und begann, Schriftzeichen zu setzen, und sah, wie sich die Schriftzeichen fügten zu Sätzen, zu Sätzen, deren Woher er nicht verstand, deren Wohin erst recht nicht – da schlug ihm das Herz hinauf bis in den Hals.

Angst? Freude?

Er stand jeden Tag vor neuen Türen, und sie stellten ihn vor die Wahl, zu fliehen oder sie zu öffnen. Er entschied sich immer, sie zu öffnen, und wenn er seine Hand, seine eigene fremde Hand, die Klinke niederdrücken sah: da schlug ihm das Herz hinauf in den Hals.

Angst? Freude?

Wenn er an seinem Klavier saß und die Tasten niederdrückte und Töne hörte, von denen er einige notieren würde, ohne schon zu wissen, welche, ohne schon zu wissen, warum er diese Tasten niederdrücken würde und jene nicht, ohne schon zu wissen, warum er diese Töne niederschreiben würde und jene nicht – da schlug ihm das Herz hinauf in den Hals.

Angst? Freude?

(Peter von Mundenheim, unbekanntes – Verzeihung – unveröffentlichtes Manuskript, diese Passage veröffentlicht 04.12.2021, © Verlag Peter Flamm 2021)