… die Verlegenheit der kleinen Astrophysikerin hatte gleich mehrere Gründe. Sie liebte Frauen, und der Junge mochte sie deswegen, denn das konnte er gut verstehen. Sie hatte, genau wie er, mit nahezu routinemäßigen Zurückweisungen zu kämpfen, weil sie, sowenig wie der Junge, ihren Zuneigungen befehlen konnte. Sie kannte das Entzücken beim Anblick einer anmutigen Mädchengestalt, und wusste, was Hoffnungslosigkeit bedeutet. Sie hatte sich bei Gelegenheit schon blamiert bis auf die Knochen, hatte ihre Gefühle gezeigt, hatte ihre Liebe hingehalten wie einen alten Knochen und war verhöhnt worden. Es hatte eine junge Blumenhändlerin gegeben, die Astrophysikerin war von der Straße in den Laden getreten, sich Blumen zu kaufen, weil es ja sonst niemanden gab, der ihr welche geschenkt hätte, und da hatte das rundliche junge Wesen hinter der Theke gestanden, hatte geschickt mit scharfem Messer und von der Kälte des Wassers etwas geröteten Händen die Blumenstiele zurechtgeschnitten, die mattblonden Haare waren im Nacken zusammengebunden, das Näschen war ziemlich spitz gewesen, ein paar Sommersprossen auf den Wangen, und grüne Augen. Ein Ladenmädchen eben. Niemand besonderes. Und der Astrophysikerin war schwindlig geworden, sie hatte nicht mehr sehen und nicht mehr atmen können, sie fand sich im Mittelpunkt eine Strudels aus silbernem Licht, und der Strudel verengte sich zu zierlich stechendem Trichter, der schob sich ihr in diese mittige Stelle direkt unter dem Rippenbogen, direkt unter dem kleinen Knorpel, Stelle, die auch der Junge nur allzu gut kannte, und sie musste irgendwie um Atem ringen, die kleine Astrophysikerin, und das Ladenmädchen, es war wirklich nur ein ganz gewöhnliches Ladenmädchen, niemand besonderes, das Ladenmädchen also fragte: Darf’s noch etwas sein?
Oh ja, es hätte noch etwas sein dürfen, es hätte das ganze Leben der kleinen Astrophysikerin sein dürfen, das ganze Leben und alles Glück und allen Glauben noch obendrauf, und da war nichts, was die kleine Astrophysikerin etwa willentlich gemacht oder worauf sie irgendwelchen Einfluss gehabt hätte.
Die kleine Astrophysikerin war Lehrbeauftragte an der Universität, ihre Verhältnisse waren wohlgeordnet, und sie ging nach Hause, und die Welt um sie herum wollte einfach nicht aufhören, sich zu drehen.
Vergesst bitte nie: Liebe unter den Menschwesen kommt unmittelbar aus IHREN Händen. Das heißt, sie ist primordial. Nicht abgeleitet, ohne Ursache, ohne Sinn, ohne Verstand. Ohne Grund. Jede Ableitung jede Herleitung ist Lüge. Wie üblich versteift sich das Menschwesen darauf, genau jene Dinge zu erklären, die einer Erklärung weder bedürftig noch zugänglich sind. Das Ledergeflügel bläst und weiß. Liebe Gewissen Gebet Musik – doch, das müsse alles erklärt werden, versichert das Geflügel, und die Teigfassaden glotzen gläubig und legen nach. Tatsächlich, und das wusste der Junge so gut wie die kleine Astrophysikerin, und sie argwöhnten voneinander gegenseitig, dass sie es wüssten – tatsächlich ist die Liebe ein Geschenk unmittelbar aus IHREN Händen, und es scheint, als sei SIE damit ziemlich erbarmungslos. Das ist immer wieder festzustellen. SIE zeigt oft Erbarmen, manchmal auch ganz unerwartet, nur nicht, wenn SIE Geschenke verteilt. Dass die Bedachten ächzen unter der Gewalt des Geschenks, ist nicht nur nicht selten, es ist der Normalfall. Liebe, wirkliche Liebe zu ertragen fühlt sich für das Menschtier ungefähr so an, als müsste es Feuer in den bloßen Händen davontragen. Dennoch würde keiner das Geschenk zurückweisen wollen. Niemals.
Und so machte die kleine Astrophysikerin sich mit großer Energie daran, ihren Ruf zu ruinieren. Sie tauchte jeden Tag in dem Blumenladen auf, manchmal mehrfach. Sie wusste bald die Dienstzeiten des Ladenmädchens, und die anderen Ladenmädchen und die Chefin wussten bald, warum sie kam. Die Sache war von allem Anfang an von steinerner Hoffnungslosigkeit gewesen, und wurde es mit jedem Tag mehr. Die kleine Astrophysikerin litt, wie nur ein unglücklich verliebtes Menschtier leiden kann, und die Verliebtheit und das Leiden stumpften nicht etwa ab, sondern wurden mit jedem Tag spitzer und schärfer, schnitten das Opfer in kleine Würfel, und wenn das Opfer hätte sagen können: Schluss jetzt, und alles soll wieder so sein wie vorher, so hätte es sich eher die Zunge zerbissen und die Teile verschluckt als diesen Wunsch auszusprechen. In den Laden einzutreten, bedeutete jeden Tag Todesangst, bis hin zu Würgen und Atemnot und Schwindel, im Laden zu stehen vor der unbegreiflichen Zaubergestalt kurze verzweifelte Seligkeit. Und dann das Standhalten, Standhalten gegen das Gepruste der anderen Ladenmädchen, Standhalten gegen die Zurückweisung. Der Junge wusste, dass die kleine Astrophysikerin keine Wahl gehabt hatte, oh ja, er wusste das. Die kleine Astrophysikerin ließ keine Dummheit aus. Sie fing an, dem Ladenmädchen Briefe zu schreiben, legte sie beim Einkauf auf den Ladentisch. Sie verging dabei vor Peinlichkeit, die Peinlichkeit ist eine Schraube, die schärfer und immer noch schärfer angezogen werden kann, sie dreht niemals durch. Das Ladenmädchen war von hausbackener Landläufigkeit, die Einstellungen Gewohnheiten Urteile des Vororts, in dem sie geboren war, waren auch die ihren, sie kannte keine anderen und wollte keine anderen. Frauen, die sich für Frauen statt für Männer interessieren, konnten in diesen Kreisen, die sich für urteilsfähig hielten, versteht sich, nicht auf Anerkennung hoffen, und dass sie, das Ladenmädchen, nun Objekt der Begierde eines solch abartigen Wesens geworden war, verschaffte ihr eine steile Sensation, gemischt aus Verachtung Erregung Schadenfreude. Das Leben des Ladenmädchens war seinen Gang gegangen, vor dem Auftauchen der kleinen Astrophysikerin. Jetzt plötzlich hatte es Inhalt Spannung knalle Erwartung! Das Ladenmädchen war plötzlich wichtig. Von der kleinen Astrophysikerin umkreist zu werden verschaffte ihr ein ähnliches Gefühl der Importanz wie den Denunzianten in der Dorfstraße des Jungen der Gedanke an „sexuellen Missbrauch“. Wie diese gedachte das Ladenmädchen die Sache auszukosten bis auf den Grund. Einfachster menschlicher Anstand hätte ihr geraten, die unwillkommene Bewerberin beiseitezunehmen und ihr unter vier Augen in schonenden, aber eindeutigen Worten die Aussichtslosigkeit ihrer Bemühung klarzumachen. Und dann das Beste zu hoffen. Statt dessen schaffte sie es in der Begegnung nicht über ein Grinsen hinaus, dessen Dümmlichkeit die kleine Astrophysikerin einfach nicht zur Kenntnis nehmen wollte, hernach aber ging das Gepruste und Getuschel los. Es kam dahin, dass eines Morgens drei junge Männer vor dem Geschäft auf die Astrophysikerin warteten, um ihr unter höhnischem Gelache und unter Anwendung des unverkennbaren Akzentes ihre Vorortes zu sagen, was von ihr und ihresgleichen zu halten sei. Früher hätte man noch gewusst, wie mit ihr und ihresgleichen zu verfahren sei. Auch vom Rechtsanwalt war die Rede und dass man sich gegen Belästigung zur Wehr zu setzen wisse. Die drei bauten sich körpernah vor der kleinen Astrophysikerin auf, und die kleine Astrophysikerin roch Bier. Man hatte sich offenbar trotz der frühen Stunde Mut angetrunken. Das Wort „Belästigung“ fiel während der kurzen Begegnung wohl an die dreißig Mal, das Wort „Rechtsanwalt“ nicht viel weniger. Die kleine Astrophysikerin starb fast vor Scham und Verzweiflung. Sie ging davon, und ihre Liebe zu dem Ladenmädchen war um sie wie ein Panzer aus Diamanten, und jeder Stein war mit seiner scharfen Kante eingestochen in ihre Haut, so dass sie jeden Schritt spürte und jeden Atemzug. Später fand sie zu Hause Zettel in ihrem Briefkasten vor, mit Zitaten aus ihren Briefen an das Ladenmädchen und höhnischen Drohungen. Es wurde erneut daran erinnert, wie man „früher“ mit ihresgleichen umzugehen gewusst hätte, und dass sie sich hüten solle, es kämen noch mal wieder andere Zeiten. Noch zwei Tage weiter wurde sie im Institut zu einem höchst verlegenen Lehrstuhlinhaber gerufen, der ihr einleitend versicherte, das alles ginge ihn ja gar nichts an, aber er hätte da diesen seltsamen Brief bekommen, und der riefe ihn auf zu schützen und zu maßregeln, in einer so unzuverlässigen Orthographie, dass man aus dem Inhalt kaum schlau werden könne, und er wolle dies der geschätzten Kollegin ausschließlich informationsweise mitteilen, verbunden mit der Bitte, doch das Mögliche zu tun, dass dergleichen Schreiben nicht noch einmal … man habe den Absendern im Übrigen schon geantwortet, dass es sich hier um eine Privatsache handle, die die Fakultät nicht das Geringste anginge und von der sie im Übrigen auch nichts wissen wolle, die Fakultät lehne jede weitere Korrespondenz in dieser Frage ab, weitere Zuschriften würden ungelesen fortgeworfen.
Keine Frage, das war so anständig von dem Lehrstuhlinhaber, wie man es nur erwarten konnte, und dennoch ging die kleine Astrophysikerin vernichtet davon, gedemütigt bis auf die Knochen, verletzt, und die Zettel mit den höhnischen Zitaten lagen noch auf mehrere Wochen hinaus in ihrem Briefkasten. Sie hatte in ihren Briefen dem Ladenmädchen ihr Herz geöffnet – um noch das wenigste zu sagen – sie hatte ihre Gefühle offen ausgebreitet und durfte nun erleben, wie die Einladung begierig angenommen wurde. Einladung, auf diesen Gefühlen herumzutrampeln. Das hat die sich jetzt selber zuzuschreiben! Sie war eine empfindsame Frau, irgendwie fehlte ihr der harte Kern des Jungen, sie suchte Zuflucht in therapeutischer Zuwendung – Hokuspokusmedizin, sagte der Junge – und hörte dabei nicht eine Minute auf, das Ladenmädchen zu lieben. Zum Zeitpunkt des Gespräches, das ich euch hier wiedergebe, lag der Vorfall mehr als acht Jahre zurück, und sie liebte das Ladenmädchen immer noch. Sie hatte seit jenem letzten Morgen der drei Bierköpfe nicht nur den Laden, sondern auch die Straße und selbst das Viertel gemieden. Hätte man sie gefragt und hätte sie geantwortet, was sie ganz sicher nicht getan hätte, so hätte sie wahrheitsgemäß sagen müssen, dass sie das Ladenmädchen noch immer liebe, auf den Knien ihres Herzens, und dass das Ladenmädchen die Liebe ihres Lebens sei.
Der Junge hatte also allen Grund, die kleine Astrophysikerin zu mögen.
(Peter von Mundenheim, aus einem unveröffentlichten Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht 03.12.2021, © Verlag Peter Flamm 2021)