Aslan stieg ab, er musste das Gespann führen, durch die seltsame Wildnis der Großen Straße.
Wohl war sie, vor langem einmal, ein ebenes breites Band gewesen, von glatter Oberfläche aus Asphalt, doch hatte die Zeit vor ihr nicht Halt gemacht.
Mächtig war das Leben. Frost kam, und sprengte kleine Risse in die graue Haut, Regen wusch weiter, und Wind, und Sporen und Samenkörner flogen herbei. Tausende fielen auf die fruchtlose Härte und vergingen, vertrockneten, verfaulten, doch wenige aus dem Überfluss fanden die Spalten, senkten sich ein, wuchsen. Die Kraft winziger Wurzeln, das Wasser in den zarten Lamellen breitete die Risse, sprengte den harten Asphalt und hob ihn hoch in Schollen: da war weiterer Grund geschaffen. Und rastlos war das Leben. Da siedelten sich an Bakterien und Pilze, Moose und Flechten, und lebten und starben, und die Gestorbenen vergingen zu Grund für neues Leben. Schnell kamen Gräser. Ihre harten Wurzeln bohrten sich weiter durchs zähe Gestein, Millionen Ritzen, Löcher, Öffnungen waren jetzt, und Wasser drang ein und brachte Nahrung mit und höhlte und unterminierte.
Wann fand der erste Baum seinen Ort? Eine Birke wars vielleicht, oder auch nur ein Haselstrauch, der senkte seine Wurzeln tief und hob den Grund, dass die graue Oberhaut brach zu Trümmern.
Die kleinen Tiere folgten, die Spinnen und Käfer, die Asseln und Schnecken, die Mäuse und die leichten Vögel, bald auch die Eichhörnchen, und die Füchse und Marder, zu nächtlichem Gang.
Wie war das Leben mächtig! Es fragte nichts, nur sich auszubreiten war sein Ziel, sich zu mehren.
Und durch das breite Band der Wildnis führte ein Fahrweg, schmal und gewunden, den hatten sich die Menschen gesucht. Schritt für Schritt folgte ihm Aslan. Der Asphalt war zerspalten in kleine, knirschende Brocken, zuerst war das die Tat der Gräser gewesen, dann aber wirkte auch das Gewicht der Räder, die immer wieder darüber hinwegmahlten. Der Pfad wand und schlängelte sich, führte von einer Seite des Bandes zur anderen, nahm ein Stück des Weges geradeaus, verlor sich dann wieder in endlosen Zickzackschlingen. Da gab es tiefe Brüche und Risse, denen er ausweichen musste: Frost und Baumwurzeln hatten den Grund zernagt, bis Spalten entstanden waren, schwarz und leblos, eine Falle für Mensch und Tier, an deren Rändern buntes Wachstum und Gestrüpp die Gefahr übersehen machte. An anderen Stellen breiteten sich Gruben, die der Regen mit Wasser gefüllt hatte, Leben war in ihnen ohne Zahl: Käfer und Larven bewohnten die kleine Welt, Wasserflöhe hüpften umher, und nach allem, was sich bewegte, streckten sich aus die Nesselarme der durchsichtigen Hydren, zwischen Algen und Entenkraut. Wasserläufer tanzten ihr einsames Ballett auf der Oberfläche, und über dem Spiegel stand summend und schwirrend ein Mückenschwarm.
Dann waren da Baumgruppen, kleine Haine, da ein starres Gewächs zuerst Grund gefasst hatte, so dass andere nachfolgen konnten, dicht an dicht standen die Stämme, sich gegenseitig verkrüppelnd, doch lebenszäh. In den Zweigen nisteten Vögel, unruhig aufflatternd beim Nahen der rumpelnden Gespanne. Am Boden huschten Mäuse.
Und andere Stellen waren, da hatten Regen und Frost, und die Kraft des Lebens zuletzt, große Platten des Asphalts schräg emporgehoben, unzerbrochen, zuweilen zimmergroß, erstorbenes Wurzelgewirr lagerte darunter, im Schatten.
Das war die Wildnis der Großen Straße, und der Schlängelpfad wand sich dahin und führte die Gespanne. Aslan trottete vorweg, bald stieg auch Gabriele herunter vom Bock, um Sprösslinge und Kräuter auszurupfen, die wurzelten oft tief hier, und ließe man sie gewähren, wäre der Weg bald überwachsen. Heiß war es, die Bienen summten, und der Wind strich durchs Sonnenblau.
Ein schwieriger Weg, sagte Gabriele, um etwas zu sagen.
Aslan nickte nur zur Antwort. Die Wagen knarrten und rumpelten, die Ochsen marschierten in gleichmäßigem Trott, es war hoher Mittag, schläfrige Zeit. Roger nickte immer wieder ein über seinen Zügeln, er musste ja nicht führen, seine Tiere folgten einfach dem Zug des vorderen Gespanns, das war so einfach, aber auch langweilig. Inge strickte murmelnd, und Grand Mère döste vor sich hin, mit halbgeschlossenen Augen. Nur Waldemar, er lag hinten im Wagen und blickte zur Plane hinaus, wie seltsam die Wildnis der Großen Straße! An den Bäumen und hochgeschobenen Trümmern vorbei konnte man weit ins Land blicken, grün und gelb war die Ebene, blau in der Ferne, dort hinten lagerten die Hügel, daher die Wagen gekommen waren, und auf der anderen Seite, fern am Horizont, schimmerte eine Bergkette, niedrig und hell, von der Sonne beschienen. Waldemar schaute hinüber, dann betrachtete er wieder die Straße, wie sie von den rollenden Rädern zurückgelassen wurde: die Bäume, die wehend hohen Gräser, die Tümpel und Spalten, die wirren Asphaltbrocken, der schmale Weg, der sich durch die Wildnis schlängelte. Sie fuhren nach Westen, der Schatten lag schon hinter den Wagen, und Waldemar sah zu, wie das Geröll des Weges von ihm bedeckt wurde wie von einer schwarzen Decke, um dann wieder ins Sonnenlicht hinauszuschlüpfen.
Dort vorne, gleich, könnt ihr die Stadt sehen, sagte Gabriele, eingeschüchtert von Aslans Schweigen.
Die Stadt? fragte er.
Ja, antwortet sie, dort vorne ist eine Stadt, aber es lebt da niemand.
Ich sehe sie, dort vorne! rief Magdalena, die vom Kutschbock aus den besseren Überblick hatte.
Der Weg krümmte sich, eine kleine Baumgruppe wich zurück, und dann konnte auch Aslan sehen: ja, dort war eine Stadt, eine richtige Stadt. Schweigend schlief das Meer der Gehäuse, grau und wirr unter der Sonne, einzelne Türme und Gebäude ragten heraus. Aslan hieß die Ochsen anhalten, und Roger kam nach vorne gelaufen, und sie standen da und schauten, im Sommerwind. Es rührte sich nichts. Die ersten Häuser, bei den Ausläufern der Stadt, waren gut zu erkennen, eine Straße wand sich hervor. Weiter innen, im Steingewirr, glitzerte es silbern, dort ist ein Fluss, murmelte Aslan, und Gabriele nickte bestätigend. Sie ahnten, wie es dort aussah: Straßenschluchten, Geröll, Brücken, mächtige Bauten und das Labyrinth der kleinen, Bäume und Sträucher und Gras, und die großen Kolonien der Vögel, die Eidechsen, die grasenden Rehe, die Füchse und wilden Hunde, die Bären in Vautrins Höhlen. Dazwischen murmelte der Fluss, grub sich neue Arme, Gebäude und Straßen fortschwemmend, und offen lagen die Dächer, wartend der Menschen.
Können wir sie umgehen? fragte Aslan.
Gabriele schüttelte den Kopf. Ihr müsst da durch, wenn ihr weiter nach Westen wollt, aber ihr werdet von der anderen Seite kommen, dort – sie wies mit ausgestrecktem Arm – und dort wohnt der Lotse.
Aha, sagte Roger beruhigt, es gibt einen Lotsen. Und sonst wohnt da niemand?
Nein, antwortete Gabriele, niemand. Wir schauen gelegentlich nach, aber es vielleicht kein guter Ort zum Wohnen, ich weiß nicht.
Aslan nickte und griff wieder nach dem Ochsenhalfter, zum Zeichen, dass es weitergehen solle.
Nur kurz war der Weg noch, dann wandte er sich zum äußersten rechten Rand der Großen Straße und führte in flachem Bogen hinunter ins freie Gelände. Mit kreischenden Bremsen kamen die Wagen unten an, und Aslan atmete hörbar auf.
So, sagte Gabriele, jetzt wird es leichter.
Waldemar lag immer noch hinten im Wagen und blickte zurück, die Große Straße sah wieder aus wie eine langer Hügelrücken, der sich ins Unabsehbare erstreckte, nach Westen zu umging er die Stadt und verschwand, fast unkenntlich, in den Wäldern.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 30.11.2021, © Verlag Peter Flamm 2021)