Wandel und Aufbruch

… kann hier nur andeuten, in Parenthese, dass SIE die Bilder schafft, wie SIE ihr gefallen. Ikonographie Konvention gesellschaftliche Vermittlung, das ist alles gar nichts, denn die Gesellschaft der Menschtiere – oder die Gesellschaft etwelcher Menschtiere zu ihrer gegebenen Zeit – kann nicht einfach Bilder schaffen nach Gusto und Belieben. Viele haben das schon geglaubt, wäre ja auch seltsam, wenn nicht schon viele das geglaubt hätten. Einfach mal ein Bild erschaffen, und dann durch Wiederholung durch Zwang durch Dressur durchsetzen das Bild! Gelingt nicht, ist nie gelungen. Erfinden kann das Menschtier Bilder , so viele es will. Aber welches Bild dann wirkmächtig wird an seinem Ort zu seiner Zeit, das hat das Menschtier nicht in der Hand. Das war etwas, worüber der Junge im Alter immer wieder nachdachte. Nachdachte und sich wunderte. Das Menschtier forschte und suchte, ermittelte in seiner eigenen Geschichte auf diesem Planeten mit dem Spürsinn eines eigensinnigen Büttels, der die Schuld des Kulpanten beweisen will. Unbedingt beweisen! Und bei allem Ausmitteln kamen die eigentlichen Fragen nicht in den Blick, geschweige denn in die Nähe ihrer Beantwortung. Warum setzt sich zu ihrer Zeit eine bestimmte Art von Musik durch? Warum singen die Menschen auf einmal mehrstimmig, in immer komplizierteren Lineamenten? Weil das erzwungen worden wäre? Offenbarer Unfug. Irgendwo, in irgendeiner Stadt, in irgendeiner Kirche fingen sie an, so zu machen. Aber warum machten alle anderen nach? Tausend Dinge werden ausprobiert zu jeder Stunde jeder Minute. Und plötzlich greifen alle gierig nach dem einen neuen Modus, der plötzlich allen gefällt. Aber warum gefällt dieser eine neue Modus, und alles andere nicht? Warum rufen plötzlich alle: Wir auch, wir auch? Der Junge wusste für gewiss, wusste so sehr für gewiss, wie jeder andere Beobachter es auch wissen konnte, dass in der listigen Bewegung der Worte der Töne der Bilder nichts vorhersehbar war. Keiner der Schlauen konnte vorhersagen, welche neue Gestaltung in der populären Musik – zum Beispiel – nächsten Monat nächstes Jahr die Menschen ergreifen würde. Rings um den Globus. Die geschwinde Schneiderin war aufgetaucht und hatte innerhalb weniger Jahre die Herzen und die Phantasie der Menschen erobert, und sie war in der Welt das bessere Teil. Hätte irgendjemand sie voraussagen können? Ihre Melodien ihre Worte prognostizieren? Und das zu können deuteten die Schlauen doch offenbar an. Alles Konvention! Gesellschaftlich vermittelt! Marktstrategie!

In Wahrheit waren die Prognostiker zu allen Zeiten jämmerliche Versager, die nichts vorhersagen konnten, gar nichts. Eine Wortmeisterin setzte sich eines Tages hin in ihrer Unbekanntheit in ihrer Verborgenheit und begann zu schreiben, erfand die Abenteuer eines Zauberlehrlings, und ein paar Jahre später überfluteten ihre Bücher den Planeten, in einer Zahl, die in die Hunderte von Millionen ging. Hatten die Schlauen nicht vorherzusagen gewusst. Da das Ereignis eingetreten war, wussten sie tausend Dinge zu sagen, tausend Schlauheiten, alle gleich lahm gleich belanglos, gleich aussichtslos. Nur der einen Tatsache stellten sie sich nicht: dass sie das Ereignis nicht hatten vorhersagen können, wiewohl sie es im Nachschlag doch als trivial hinstellten. Als Ergebnis geplanter Marktstrategie gar. Andeutend, das können man alles planen, einfach so. Das könne man sich vornehmen und tun und durchsetzen. Das werde alles in Hinterzimmern ausgekungelt.

Idioten, dachte der Junge.

Regelmäßig, da er alt wurde und starb, war das Menschtier dieser zentralen Frage keinen Schritt näher gekommen, will sagen, es wagte nicht einmal, die Frage zu stellen: Warum zu dieser Zeit an diesem Ort diese Töne diese Worte diese Bilder? Und nicht irgendetwas anderes? Warum zu dieser Zeit plötzlich spitze Türmchen und Pfeiler auf allen Kirchen?

Das musste so sein! riefen die Schlauen. Das kann man ganz genau zeigen, dass es so kommen musste. Musste!

Ja, dachte der Junge. Das kann man ganz genau zeigen, dass es so kommen musste, nachdem es gekommen war. Nachdem!

Idioten.

Gab Menschen zu seinen Lebzeiten, die versicherten im Ernst, man könne zum Beispiel nach Belieben neue Systeme der Musik erfinden. Ganz neue Klänge ganz neue Schichtungen der Töne. Und das könne man durchsetzen. Man müsse nur hartnäckig sein. Alles eine Frage der Gewohnheit. Wenn die Menschen die Sache nur oft genug hörten, würden sie Gefallen finden daran.

Fanden die nicht. Aus der Sache, wiewohl ausgeschrien mit Tamtam, wurde nie mehr als das ziemlich wirre Fuchteln einer ziemlich wirren Sekte. Sekte, der man eine Nische einräumte, weil der allgemeine Wohlstand solche Großzügigkeit erlaubte. Die Sekte bediente sich bei dem Wohlstand, erpresste gierig öffentliche Mittel, wir sind die Zukunft, versicherten die Adepten, wir allein, und wer sich zu uns bekennt, offenbart sich als wahrer Kenner als Wisser und öffentliches Kabumm, als Eingeweihter.

Wie eben Sekten Gefolgschaft sammeln, und Mittel pressen. Die Dummheit der Fleischkostüme kennt so wenig Grenzen wie die Bosheit des Lederflügligen.

Der Eifer der Geschichtswissenschaft war groß zu Zeiten des Jungen, und der Junge folgte den Ergebnissen mit nie erlahmendem Interesse. Aber zu zeigen, zu zeigen im Detail und in allen Verästelungen, wie, ausgehend von einer milden Flusslandschaft, mehrstimmiger Chorgesang sich durchsetzte zu seiner Zeit, heißt noch nicht beantwortet zu haben, warum er sich durchsetzte. Die Geschichtswissenschaft nahm zu Zeiten des Jungen das Wie in den Blick, mit großer Beharrlichkeit und staunenswerten Ergebnissen, aber nie das Warum. Das Warum liegt unter der Oberfläche. Die Dokumente erzählen nur das das und das Wie, und sie treiben und schaukeln auf der Oberfläche der Zeit, wie Treibholz dümpelt auf der Tiefe eines Ozeans. Das Treibholz ist interessant, brennend interessant, und aus seiner Zusammensetzung seiner Drift seinem Woher und Wohin lässt sich einiges ausmitteln. Einiges, allerhand. Aber das Senkblei in die Tiefe zu werfen, wagten die Ermittler nicht. Das ist nicht wissenschaftlich, versicherten sie, und unter ihren schwanken Schifflein glitten dahin die Wesen der Tiefe, farbige Schatten, auftauchend und wieder sich wendend, nach unten, ins Dunkel, wo sie zu Hause sind, zu Hause im Ungeheuren.

Nichts ist beantwortet, dachte der Junge im Alter. Sie stellen nicht einmal die richtigen Fragen.

Er war deshalb nicht unglücklich. Die Versprechungen der Wissenschaft waren immer groß gewesen, manchmal großmäulig, aber viel war auch eingelöst worden. Dass jede scheinbare Antwort die Portale zu Millionen ungedachter Fragen öffnete, war ja kein Unglück. Alles Forschen machte die Horizonte nur immer weiter. Abenteuer voraus! Je mehr man ausmittelte über die Welt, desto unbekannter wurde sie. Als, Jahrhunderte vor Lebzeiten des Jungen, die Welt noch klein gewesen war, hatte man alles gewusst über sie, und hatte gelebt viel ruhiger als später. Nun, da man Wissen anhäufte in unbegreiflichen Mengen, wurde die Welt immer rätselhafter und undurchsichtiger, immer weiter und gewaltiger. Früher lagen Täler hinter dem nächsten Berg, und man durfte annehmen: es leben dort Menschen, vielleicht auch Ungeheuer. Zu Zeiten des Jungen begann man zu begreifen: hinter jedem Hügel beginnt ein neuer Kosmos, und wer dort wohnt? wissen wir nicht.

Der Junge fühlte Entzücken bei diesem Gedanken, und als er starb, war Aufbruch in der Welt. Nachdem er als junger Mann staunend die Wunder der Vergangenheit geliebt hatte, brannte er als alter Sack vor Neugier und Erwartung, auf den nächsten Liederstrauß der geschwinden Schneiderin, auf das nächste Buch der Wortmeisterin mit ihrem Zauberlehrling, konnte kaum erwarten jeden nächsten Morgen und was er bringen würde, schaute Tag um Tag hinein in die elektronischen Spielzeuge, welche Worte Bilder Töne neu sich bekannt machten, und enttäuscht wurde er nie. Die Welt wurde neuer mit jedem Tag, und er dachte immer nur: ich bin so froh, dass das Alte vergangen ist, so froh, so froh.

Das Alte ist vergangen, und da das Neue kommt, hat niemand es vorhersagen können. Das Neue, das du vorhersagen kannst, ist nicht neu. Das Neue ist immer unvermutet, ungedacht, kommt in Glanz und Pracht. Zuweilen auch in Zerstörung, gellende Geißel. Jedoch wird die die Welt sich weiterdrehen, das ist IHR festes Versprechen, und wir taumeln voran, geblendet vom Licht des Neuen Tags. Wer sich wendet und voranschreitet, dem ist jeder Tag ein neuer Morgen.

(Aus einem unveröffentlichten Manuskript Peter von Mundenheims, dieser Ausschnitt veröffentlicht 29.11.2021, © Verlag Peter Flamm 2021)