Die Wagen rumpelten und holperten und kamen gut voran. Gabriele saß zuerst etwas unbehaglich auf dem Kutschbock, denn sie war das Gehumpel schwerer Ochsenkarren nicht gewöhnt, aber sie lernte schnell, wie man die schlimmsten Stöße abfängt, und fand sich behaglicher.
Die Ochsen schritten wacker aus, mit schaukelnder Wamme, gut ausgeruht und kräftig nach der Fettweide der Nacht. Aslan ließ die Zügel hängen, unnötig zu führen, der Weg zog durch dichten Wald, immer geradeaus. Sie hatten das Hügelland bald hinter sich gelassen, der Boden hob und senkte sich nur noch in weiten, flachen Wellen, so sacht und stetig, dass man es kaum bemerkte, dies war eine gute Gegend für den Handel mit Wagen.
Übrigens zeigte sich der Weg recht ordentlich gehalten: in der Mitte wucherten Gras und Kräuter kräftig, aber die Radspuren lagen fast frei.
Jaja, sagte Gabriele, wir fahren ja doch öfter hier durch, wenn wir unsere Verwandten besuchen, da kümmern wir uns schon drum.
Das versteht sich natürlich von selbst, jeder Mensch macht es, wenn er Ehre und Anstand im Leib hat, nicht wahr: auf Wegen, bekannt oder unbekannt, schiebt man Steine beiseite und rupft Baumschösslinge aus, zum Nutzen der Nachkommenden. Im Übrigen hat Vautrin es befohlen.
Gewöhnlich war es Magdalena, die absprang, oft aber auch Waldemar, wenn er gerade vorne auf dem Kutschbock saß. Fand man die Pfade ganz überwachsen, musste Aslan vorweg gehen, um die Ochsen am Halfter zu führen, das geschah nicht selten, es gibt Dörfer, da leben die Menschen so abgeschieden, dass die Wege vergessen werden, bald sind sie ganz überwuchert, der Wald deckt sie zu, und das Dorf fällt in das dunkle Loch der Ungewusstheit, die Menschen kämpfen eine Zeit noch um den Tag, aber bald müssen sie aufgeben und fliehen in andere Gegenden, oder es gibt kein Mittel und sie sterben dahin, ungewusst, ungekannt, und ist keine Kunde mehr von ihnen auf dieser Erde. Viele Orte dieser Art hatten die Kaufleute gesehen, und Aslan besonders, denn in seiner Zeit als Kiepenhändler hatte er die überwachsenen Pfade nicht gescheut, was an ihrem Ende er gefunden hatte, war oft Verlassenheit und Schweigen gewesen. Nicht immer aber, denn verbarg sich hinter dem Vergessen dennoch Leben, voll Zähigkeit und Willen, so wurde er empfangen mit Tränen, als ein Zeugnis von draußen, dass die Welt der Menschen dauerte.
Gabriele saß mitten auf dem Kutschbock zwischen Aslan und Magdalena und schwatzte und fragte und wollte alles wissen. Sie hatte sich in Magdalena verliebt und hielt die ganze Zeit deren Arm umschlungen.
Und wo kam Aslan her?
Aslan war ein Stadtkind, jawohl. Er kam aus dem Norden, von der Küste her, aus einer gewaltigen Stadt, durch deren Kanäle die Gezeiten brausten. Zwecklos, es beschreiben zu wollen. Wer könnte das Ungeheure in Worte fassen? Wild und ungezähmt sind die Werke Vautrins. Aslans Eltern lebten in einem kleinen Holzhaus, das sie selbst gebaut hatten. Es stand, gelehnt gegen die Innenwand, inmitten einer gewaltigen Halle, oh, ihr Lieben, sie war hoch wie der Himmel, und ganz oben in den Wänden, knapp unter dem Dachtrauf, waren Öffnungen gelassen, dass Licht hereinfalle, Glas stak noch in denen, erblindet. Und angefüllt war ein Teil der Halle mit mächtigen silberblinkenden Röhren, die waren so groß, dass der kleine Junge Aslan aufrecht hindurchgehen konnte. Ein Schiebetor verschloss die Halle, es stand einen Spalt weit offen, so dass man ein und aus gehen konnte, und das war gut so, denn bewegen ließ sich das Tor nicht mehr, die Laufschiene war überwachsen, und Rost gab es auch. Draußen, vor der Halle, war ein Gewirr und ungeheures Labyrinth von anderen Hallen und Gebäuden und dunklen Straßen am Grund stiller Schluchten, Gras wuchs und Trümmerblumen und Efeu und da und dort auch wenige Bäume aus den Fenstern, nun, ihr kennt das ja. Wenige Schritt von der Halle entfernt floss ein Kanal, schwarzes Wasser. Eingefasst hatte ihn Vautrin mit Mauern, gefügt aus mächtigen Quadern von Sandstein, an denen wuschen die Wellen. Der Wasserspiegel lag gut sieben Ellen unter dem Uferweg, bei Hochflut konnte er wohl noch um drei Ellen steigen, doch geschah das selten. Eine steile Treppe führte hinunter. Dort schwamm ein Floß auf dem Wasser, angeseilt mit einer Laufleine an festem Pfahl, und an dem Floß lag ein breiter plumper Kahn, der kostbarste Besitz der Familie. Sie waren zu dritt, Aslans Eltern und er selbst, und der Vater ernährte sie als einer von den Sammlern, wie es sie in den großen Städten gibt. In tagelangen Streifzügen durchforschte er die Häuser, die Wohnungen, die Keller und Dachböden, die Gelasse und geheimen Winkel, die Vautrin gebaut und die unerschöpflich sind, und er nahm, was brauchbar schien, und trug es im Kahn zu Markte, wo er es gegen Geld und Nahrung tauschte. Aslans Mutter bebaute zusätzlich einen kleinen Gemüsegarten, langgestreckt am Rand der Halle, wo die Sonne hinfiel, der Boden war unergiebig gewesen unter der dicken Schicht Kies, die dort gelagert hatte, aber Aslans Vater hatte in mehreren Fuhren mit dem Kahn Muttererde beigebracht, in fetten Lagen hatte er sie gefunden unweit einer Ansammlung zerbrochener Glashäuser, und jetzt gediehen die Erbsen und Karotten, die Bohnen und Tomaten, für Kartoffeln reichte es ohnedies.
Aslan begleitete früh seinen Vater auf den Sammelzügen, und er sah das Labyrinth der Dinge. Unendlich war die Fülle der Räume und Gehäuse, der Straßen und Wege, der Keller und offenen Plätze. Und waren da die Spuren verflossener Generationen, oft und oft, so seltsam, die verstreuten Gebeine, man beachtete sie nicht, es war das Leben und Vautrins Wille.
Und Aslan wuchs heran, und dann sah er seinen Vater sterben. Es ging ganz schnell, kein Kampf, keine Aufregung, der Alte beugte sich und spähte hinein in eine Türöffnung, da griff die Hand zum Herz, ein Augenblick Erstarrung, und er fiel vornüber und rührte sich nicht mehr. Aslan trug ihn nach Hause, weinend, und sie begruben ihn am Rande des Kanals, unter den Bäumen, wie es üblich ist.
Aslan war fünfzehn Jahre alt damals.
Sie verließen die Halle und den Kanal, verkauften das Bott, und sie fanden eine Familie, die Aslans Mutter aufnahm. Und er selbst? Er wollte wandern.
Er kaufte eine Kiepe und Waren und ließ sich raten von den Kaufleuten, die sich in der Karawanserei der Stadt trafen, und dann zog er los.
Weit kam er herum und vieles musste er lernen, das war wohl wahr, doch sah er überall die Werke Vautrins. Die Städte, die Dörfer, die Straßen, die silbernen Gärten aus Stahl, nicht alles war zu verstehen, im Labyrinth der Dinge, und überall fand er Menschen, die kämpften, ihr kleines Leben zu leben vor dem Antlitz der wandellosen Erde.
Lange Jahre ging das, wie viele, wusste er nicht zu sagen. Er sah die Städte und die Wälder, die Flüsse und Wege, die Täler und offenen Ebenen, die Höhen und unzugänglichen Schluchten, er sah die Werke Vautrins, immer wieder und wieder, die gewaltigen Taten seiner Gebäude und Siedlungen, und er sah, wie schwach die Menschen waren und wie sie sich mühten, zu erfüllen Vautrins Gebot, sich zu mehren und die Orte zu bewohnen, ach, weit, weit bis dahin.
Er wanderte sommers wie winters, in die entferntesten Gegenden, er sah Länder, da der Himmel grau war und sanft und dachte die Gedanken Vautrins, und solche, da die Sonne schwamm im Blau und kündete Taten. Er sah die Grenzenlosigkeit Europas. Er sah und fand, dass kein Ende war der Wunder und der Kraft.
Dreißig Jahre mochte er wohl zählen, als er in einem langen Schneewinter in einem Dorf Unterschlupf fand und dort Magdalena begegnete. Oh, ein schwerer Entschluss war es für sie, mit dem Händler fortzugehen vom Dorf und ihrer Familie, doch zwang sie das kleine Stück von der Zeit, der fließenden, wohlgestaltigen, das in Aslan war, ihm nachzufolgen, wie es das Schicksal der Menschen ist. Vierzehn Jahre zählte sie damals, und im Frühjahr machten sie sich auf, und Aslan erwarb sein erstes Gespann, einen kleinen Wagen mit einem einzigen Ochsen, nein, das war noch nicht Moses Maimon, der kam erst später, Johannes Galba hieß dieser erste, und mutwillig war er und voll Eigensinn.
Und das war dann der Anfang.
Es kamen Reisen, und es kam Inge, das kleine, schreiende Kind, und dann Aslans Mutter, nach so langen Jahren, und Inge wuchs heran, und es kam Roger, und Aslans Mutter wandelte sich, aus Aslans Mutter wurde Grand Mère, der Hort der Geschichten, voll der Erfahrungen, und ein zweiter Wagen kam, und Moses Maimon und all die anderen, und zum Schluss kam Waldemar, das Kind – doch sind dies alles andere Geschichten.
Andere Geschichten.
Gabriele hörte zu, voll Staunen. Sie hielt noch immer Magdalenas Arm umschlungen, ganz unbewusst, sie war nur noch Ohr. Sie starrte blicklos nach vorne, auf den Weg, der unter den Hufen der Ochsen hinwegglitt, und fühlte die Fülle der Geschichten.
Groß sind die Werke Vautrins, sagte sie schließlich, und Magdalena nickte und küsste sie.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt hier veröffentlicht 28.11.2021, © Verlag Peter Flamm 2021)