Er war so froh, der Junge, so froh, dass er sich sein Lieblingsbuch wieder ausgeliehen hatte aus der Bibliothek. Heimat. Gewissheit. Versprechen.
Er hatte seine Lieblingsstellen in dem Buch, aber die suchte er sich nie gezielt heraus, sondern las das Buch von Anfang an, Zeile um Zeile Seite um Seite, und schlürfte genoss die Heiligen Sätze dann in verwegener Erhebung. Dieses Lesen von Anfang an, von Anfang zum Ende, von Deckel zu Deckel: das, so fühlte er, war er dem Text schuldig. War er den Worten schuldig. Nicht einmal dem Autor, der war schon lange tot, und dem konnte es egal sein. Nein. Aber den Worten war er es schuldig, denn die lebten, lebten in blendblitzem Flügelschlag. Und die Lieblingsstellen hatten ihren gerechten Ort im Miteinander aller Zeilen, aller, in ihrer gehörigen Folge.
Noch als Alter dachte er so, wenn er die Lieblingsmelodien aus den Alben der Sängerinnen, die er mochte liebte schätzte verehrte anbete was immer bis zu welchem Grade immer – wenn er diese Lieblingslieder also nie sich aus dem Angebot herauspickte, sondern stets dem ganzen Album folgte, in das sie eingebettet waren. Manchmal konnte er nicht widerstehen und drückte die Wiederholungstaste des jeweiligen Spielzeugs und lauschte nach den Verschlingungen der Töne, wie andere der Anmut weiblicher Bewegung folgen mit ehrfürchtigem Blick, aber meistens ließ er in frommem Ernst das ganze Album noch einmal sich entwickeln, von vorne bis hinten, und erfreut klopfte sein Herz, wenn die erwartete Lieblingsmelodie sich meldete mit ihren allerersten Tönen.
Es war nicht so, dass er diese Ehrfurcht vor den Worten den Tönen besonders pflegte, die Ehrfurcht war vielmehr ein Gefühl, über das er nie hinwegkam. Die Worte die Töne sind lebendig, wusste er, und sie sind wie alles Leben kränkbar. Man darf sie nicht zurücksetzen. Muss taktvoll mit ihnen umgehen respektvoll. Zum Respekt gehört, dass du sie in der gehörigen Ordnung wahrnimmst, so wie sie sich dem Autor dem Komponisten gegeben haben, so wie sie sich dir jetzt geben. Nimmst du sie anders wahr, greifst du mit plumper Hand hinein und nimmst dir, was dir gerade gefällt, so werden sie sich nicht rächen an dir, das liegt ihnen nicht, das ist nicht ihre Art, aber sie werden traurig sein. Traurig und bedrückt, deiner Ungeschlachtheit wegen. Verdienen wir das, werden sie fragen, in solche Tölpelhände zu geraten?
Nein, sprach der Junge eilig, das verdient ihr nicht, auf keinen Fall, es geschehe alles nach eurem Willen, nur nach eurem.
Die Worte und die Töne hatten es zunehmend schwer und zunehmend leicht im Alter des Jungen, wie man will. Zunehmend leicht, weil ihnen Allgegenwart ermöglicht wurde vermöge der elektronischen Spielzeuge. Zunehmend schwer, weil gerade diese Allgegenwart die Tölpel zu dem Glauben verführte, die Worte und die Töne seien ihr persönliches Eigentum. Alles uns, fühlten die Tölpel, alles wir. Sie hatten die Wunder der Worte und der Töne zur alltäglichen Verfügung wie keine Generation zuvor, und glaubten in vollem Ernst, das gebühre ihnen. Das werde ihnen das geschehe ihnen kraft ihrer Größe, vermöge ihrer einzigartigen Überlegenheit. Kartoffelhirne, die keine drei Wörter im Zusammenhang grunzen konnten, betrachteten mit kritischer Überlegenheit, die Augen blinzelnd, halb geschlossen vor Kritik, die Literaturen aller Zeiten und Völker. Alles Gegenstand unserer überlegenen Kritik! Die Schriftsteller die Musiker, alles unsere Diener. Unterbreiten uns ihre Machwerke, und wir, wir werten kritisch.
Wir werten die! denn wir sind die Werten. Und die unsere Diener, unsere Untertanen. Die haben zu bringen die haben zu liefern, und wir urteilen.
Der Junge konnte sich nie daran gewöhnen, da zuzuschauen, und wenn er etwas mied wie die Pest, so waren es die Ausspracheforen in den elektronischen Spielzeugen. Wo die Klotzköpfe „meine Meinung“ zum Besten gaben.
Will ich nicht wissen, dachte der Junge. Will ich wirklich nicht wissen.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht 27.11.2021, © Verlag Peter Flamm 2021)