Waldemar nickte, mit schiefgelegtem Kopf und blinzelnden Augen, er verstand kaum, was Grand Mère erzählte, denn er hörte nicht auf den Sinn ihrer Worte, lauschte nur dem singenden Tonfall, dem leichten Plätschern, das selber dem Quell entströmte, von dem sie redete, dem Quell der Geschichten …
„Darf ich ein bisschen in den Wald?“ fragte er. „Dort ist ein Teich …“
„Ja“, antwortete Grand Mère und erlaubte es ihm. „Aber bleib in der Nähe, wir fahren gleich weiter.“
Waldemar sprang davon. Im Wald war es dämmrig und kühl, große Farne standen und schwenkten ihre grünen Fächer. Wenn ein Windzug kam, huschten eilige Sonnenlichter übers Gesträuch, Käfer aus Gold. Ein Trampelpfad führte ans Teichufer, ab und zu schien jemand herzukommen.
Der Teich dehnte sich weit hinein in den Wald, Weiden und Erlen hängten ihre Schöpfe über den glänzenden Spiegel, und als Waldemar herbeigaloppierte, gluckste es, das waren Fische, die die Flucht ergriffen. Auf der einen Uferseite stand das Wasser flach, dort rauschte eine Wiese aus Schilf, und zur Teichmitte hin schaukelten Seerosen. Zwischen den Binsen blitzte es braun, da waren scheue kleine Tauchenten, die sich zu verbergen suchten.
Waldemar schaute über das Wasser. Auf der anderen Seite hüteten schweigende Pappeln das Ufer, der Spiegel dämmerte schwarz und tief, bodenlos tief, in seinem Bauch fing er die Sommerwolken … dort hinüber wollte Waldemar, er suchte nach einem Weg durch das Unterholz und fand endlich, dass der Trampelpfad weiterführte, farnüberwachsen, um den Teich herum und zwischen die grübelnden Pappeln. Die Stämme drängten sich zusammen, bewachten ihr Dunkel, und das Moos auf der Rinde war kühl und feucht. Waldemar trat vorsichtig auf, um kein Geräusch zu machen, er fürchtete sich, aber davon würde er sich doch nicht abhalten lassen?
Das Teichufer fiel steil ab, die Pappeln hielten ihre dichtbelaubten Äste weit übers Wasser, schattende Fächer, und drunten war alles schwarz und tief. Waldemar legte sich auf die Erde, streckte den Kopf über den Uferrand und spähte hinunter.
Das Wasser roch moorig, ruhte träumend, Träumer aus Glas. Ab und zu huschte ein Käfer über die Fläche, Stelzfäden die Beine, und trug eine Delle unter sich her, ganz für sich allein. Vom Uferrand her ragten Würzelchen ins Wasser.
Waldemar hielt still und spähte. Und dann regte es sich drunten: ein heller, fließender Schatten stieg vom Grund empor, ganz ruhig, und wurd zu einem blassen runden Gesicht, das aus riesigen grünen Augen Waldemar anschaute.
Waldemar schluckte. Die Nixe stieg weiter nach oben, aber bevor sie den Wasserspiegel erreicht hatte, schlug sie mit den ausgebreiteten Armen und verhielt. Die Schwimmhäute zwischen ihren Fingern wehten seidenfein, die langen Haare umflossen ihren Kopf als eine dunkle zarte Wolke. Sie schaute. Ihre runden Schultern schimmerten, und der Leib verschwand im Dunkel, nur eine flüchtige Schattenbewegung verriet, dass sie sachte die Schwanzflosse regte, um ihre Lage zu halten.
Waldemar krabbelte hoch und galoppierte den Weg zurück. Die Wagen standen hell in der Sonne, die blendete ihn für einen Augenblick, und er fühlte die Wärme.
„Eine Nixe!“ krähte er. „Da in dem Teich ist eine Nixe!“
„Soso“, machte Grand Mère. Sie drehte sich um und kramte unter der Plane und zählte endlich aus einer tönernen Kruke eine Handvoll kandierter Haselnüsse heraus.
„Hier“, sagte sie, „nimm das und geh und füttere sie.“
Waldemar empfing die Nüsse mit beiden Händen und rannte zurück auf seinen kurzen Beinchen. Er war blass vor Aufregung.
„Aber ärgere sie nicht!“ rief Grand Mère ihm hinterher. „Füttere sie und komm dann gleich wieder, wir fahren bald!“
Waldemar hüpfte zum Ufer, immer im Schritt abwechselnd. Hoffentlich ist sie noch da, dachte er.
Die Nixe war zur Teichmitte hinausgeschwommen. Waldemar sah, dass auf der flachen Uferseite, zwischen dem Schilf, vertrocknete Seerosen hingen und Ranken von Wasserpest und Hornkraut; offenbar warf die Nixe die Wasserpflanzen an Land, damit der Spiegel frei blieb.
Als sie hörte, dass Waldemar zurückgekommen war, drehte sie sich um und kam mit einem ruhigen Schlag des Schwanzes herbeigeschwommen, und ihre Haarwolke floss hinterher, zerfließende Tinte. Waldemar sah ihre kleinen runden Brüste und ihre schmalen Hüften, sie bewegte sich träumerisch langsam.
Unter dem Ufer hielt sie inne und schaute hoch, ohne den Kopf aus dem Wasser zu heben, und dann breitete sie die Hände aus, mit den Flächen nach oben, es war keine bittende Geste, nur eine empfangende.
Waldemar nahm ein Haselnuss und warf sie ins Wasser, es gab einen platschenden Laut, der Spiegel kräuselte sich.
Die Nuss trudelte und sank in Spiralen tiefer, und die Nixe folgte dem Anbot mit den Augen, bis es in ihrer ausgebreiteten Handfläche landete. Dann führte sie es zum Mund, wobei sie beide Hände benutzte, und wandte den Blick mit einer fließenden Bewegung wieder Waldemar zu. Waldemar warf eine weitere Gabe ins Wasser, und das Spiel wiederholte sich. Er fütterte die Nixe, und die Nixe ließ sich füttern, und dazwischen war der Wasserspiegel.
Schließlich schien die Nixe genug zu haben, denn sie ließ die nächste Haselnuss an sich vorbeisinken, ohne sie aufzufangen, aber sie blieb, wo sie war, schlug sachte die Schwanzflosse, klappte das Mäulchen kaum merklich auf und zu und schaute Waldemar ins Gesicht, mit unverwandtem Blick aus seegrünen Augen.
Waldemar schaute zurück. Er hätte gerne hinuntergegriffen und sie gestreichelt, aber dann würde sie wegschwimmen. Nixen wollen sich nicht berühren lassen. Sie stand unter ihm im Wasser, und er war hier oben an der warmen Luft, und der Wasserspiegel glänzte schwarz wie Glas. So gerne hätte er sie in die Arme genommen und sie an sich gedrückt … eine Träne tropfte aus seinen Augen ins Wasser. Der gläserne Spiegel erschauerte, und ein Schatten wellte über das blasse Gesicht der Nixe. Mit einer eleganten Bewegung wandte sie sich ab und schwamm zur Teichmitte. Dort tauchte sie zur Tiefe.
„Jetzt ist sie fort“, dachte Waldemar bekümmert und wartete unschlüssig. Aber sie tauchte nicht wieder auf, der Teich lag schwarz und unbewegt.
Waldemar kehrte traurig über den Trampelpfad zu den Wagen zurück.
„Na, hast du die Nixe schön gefüttert?“ fragte Grand Mère.
„Ja“, antwortete Waldemar. „Aber sie hat gar nicht viel Hunger gehabt.“
„Er ist doch schon ein Mann“, sagte Grand Mère befriedigt. „Alle Männer sind traurig, wenn sie eine Nixe gesehen haben.“
„Ja, na ja“, gab Inge gereizt zurück. Ihretwegen brauchte es keine Nixen auf der Welt zu geben, und überhaupt nichts, was auch nur von fern an eine Frau erinnerte, sie war auf alle eifersüchtig.
„Ah, da bist du ja“, sagte Roger, als er Waldemars ansichtig wurde. „Wir wollen weiterfahren. Steig nur wieder auf.“
Sie hatten sich entschieden, doch nach rechts zu wenden und den fremden Wagenspuren zu folgen. Wahrscheinlich führten sie zu einer Ansiedlung, und warum sollte man ein Geschäft auslassen, wenn es möglich war?
Waldemar streckte einen Arm zu Magdalena hoch, und sie half ihm herauf und gab ihm einen Kuss. Aslan kam ebenfalls hochgeklettert, er setzte sich auf seinen Kutschplatz und brüllte nach hinten: „Seid ihr soweit?“
„Ja, wir können!“ rief Roger zurück, und Moses Maimon spitzte die Ohren.
Also schnalzte Aslan mit der Zunge und knallte mit der Peitsche, und die Ochsen zogen an. Waldemar kroch nach hinten ins Wageninnere, legte sich auf sein Baumwollbündel und dachte an die Nixe, an den dunklen, unverwandten Blick aus seegrünen Augen, und an die seidenglänzenden Schultern, und er fühlte, wie sich sein Herz zusammenzog. Dass sie dort so allein ist! dachte er. Und dann wird es Winter, und der schwarze Spiegel gerinnt zu Glas, und die grünen Augen ruhen und träumen, ruhen und träumen, einen langen Schlaf, und es wird kalt.
Er schluckte und schniefte ein bisschen, und im Halbschlaf fühlte er, dass es Dinge gab, zu denen man nie gelangen konnte, auch wenn man die Hände nach ihnen ausstreckte, um sie liebzuhaben … ein glänzender Spiegel trennte sie ab, und sie waren in ihrer Welt, und er in der seinen.
Der fremde, grüne Blick ruhte vor seinem Bewusstsein, bis er einschlief.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht 26.11.2021, © Verlag Peter Flamm 2021)