… dann wusste man, wo man ihn hinzustecken hatte, und was zu wissen, das war das Ding, die Hirne schienen den Gedanken nicht ertragen zu können, was nicht zu wissen, und wenn nichts gewusst wurde, musste eben was erfunden werden.
Der ist bestimmt schwul. Der Dauerbrenner, immer an erster Stelle. Eher eine Zwangsvorstellung, vor allem unter den Frauen verbreitet. Rauszufinden, wer schwul war, war ein Anliegen, das drängte das presste, das musste man wissen. Und wenn man es wusste, wusste man es höhnisch. Wenn man einen als schwul wusste, wusste man sich selber als überlegen. Der Verdacht bestand, gegen jeden. Schwulsein war eine verborgene Eigenschaft, versteckt und verhohlen. Schwulsein musste ans Licht gezogen werden. Woran erkennt man Schwule? Am schlaffen Händedruck, am ausweichenden Blick, am Reden. Wenn einer fließend reden kann, kann der nur schwul sein. Was, der liest Bücher? Der ist bestimmt schwul. Was, der spielt Klavier? Die sind doch alle schwul. Wie gesagt, die Frauen vornedran. Schwollen in höhnischem Überlegenheitsgefühl, wenn sie von einem sagten: Der ist schwul, implizite, der ist kein richtiger Mann. Wissen die Weibchen des Menschtiers immer, was das ist, ein richtiger Mann, jedenfalls keiner, der schwul ist. Das Schnüffeln nach den Schwulen hatten zu einem gewissen Grad das Schnüffeln nach den Anderen abgelöst, für die kurze Zeit, bevor ebendies Schnüffeln nach den Anderen wieder in Brauch kam. Dringlichkeit wurde beiderseits der Zeitlinien empfunden. Wie erkennt man einen Anderen? Die sind doch überall, die offenbaren sich nicht. Umso dringlicher das Bedürfnis, sie zu erkennen, die Zeichen lesen zu können, an denen die sich verraten. Hermeneutische Aufgabe! Zu durchschauen die Semantik des Schwulseins des Andererseins, verschiedene Worte, aber gleicher Satzbau. Die sind so schlau, die tarnen sich, aber wir sind schlauer, durchschauen die Tarnung! Rauszufinden, wer ein Anderer war, war ein Anliegen, das drängte das presste, das musste man wissen. Und wenn man es wusste, wusste man es höhnisch. Wenn man einen als Anderen wusste, wusste man sich selber als überlegen. Ist doch sowas von egal, dass ich die Schule nicht zu Ende bekommen habe, ein Anderer jedenfalls bin ich nicht! Der Verdacht bestand, gegen jeden. Anderer zu sein war eine verborgene Eigenschaft, versteckt und verhohlen. Anderer zu sein, musste ans Licht gezogen werden. Woran erkennt man den Anderen? Am schlaffen Händedruck, am ausweichenden Blick, am Reden. Wenn einer fließend reden kann, kann der nur ein Anderer sein. Eloquenz? Argumentation? Ganz klar, einer von denen. Was, der liest Bücher? Kann doch nur ein Anderer sein. Was, der spielt Klavier? Das tun die doch alle, die Anderen. Schwollen in höhnischem Überlegenheitsgefühl, die Richtigen, wenn sie von einem sagten: Der ist ein Anderer, also ein Falscher. Richtige Männer waren die Anderen übrigens auch nicht, das hatten sie mit den Schwulen gemein. Und die Richtigen schwollen beim Gedanken an ihre Richtigkeit. Egal, was sie waren was sie nicht waren, sie waren jedenfalls Richtige.
Sorry, ich referiere nur. Ihr müsstet doch verstanden haben, dass wir von Idioten reden.
Der ist schwer herzkrank. Kam in mehreren Leben des Jungen auf aus dem Nichts, erklärte, warum er sich nach der Arbeit in seiner Wohnung unsichtbar machte, warum er nicht trank, warum er so „komisch“ war. Gelegentlich konnte er die Quelle identifizieren. Die Säufer zum Beispiel, die sich vor dieser Trunkbude im Viertel sammelten, rein durften sie nicht, so standen sie draußen im Pulk, an den kleinen Stehtischen, die dort zum Verweilen einluden, ich muss auch leben, sagte der Kioskbesitzer, und die Säufer ließen ihre Münzen bei ihm, wenn sie welche geschenkt bekommen hatten, verwandelten sie in Flaschen. Der ist schwer herzkrank, wussten sie und lachten, und schwul ist der sowieso. Sie selber waren Säufer ohne nennenswerte Lebenserwartung, obdachlos, ohne Einkommen, und Hirn hatten sie entweder nie gehabt, oder hatten es sich längst weggesoffen. Egal. Herzkrank waren sie jedenfalls nicht, und schwul schon gar nicht, hahaha, und von den kleinen Stehtischen aus verbreitete sich die Kunde durchs Viertel, der ist schwer herzkrank. Das erklärt es.
Der hat was angestellt, und jetzt hält er sich unauffällig. Geheimnisvolles Raunen, hinter vorgehaltener Hand, wenn ich sagen könnte, was ich weiß, aber das darf man ja gar nicht sagen. Der Junge hatte die Folgen zu spüren bekommen, ich habe das schon geschildert. Der geht an Kinder. Um den hat sich schon die Polizei gekümmert, und jetzt passt der auf. Drüben die Mütter, die haben schon ein wachsames Auge auf den, wenn der sich blicken lässt. Wenn der mal erwischt wird! Der kriegt hier kein Bein mehr auf den Boden, dafür sorg ich persönlich. Sowas sollte man kastrieren, mit dem stumpfen Messer, ohne Betäubung! Das würd ich persönlich machen, doch, das würd ich, da kenn ich nichts!
Der kommt von drüben. Dauerbrenner, nachdem das Paradies der Werktätigen zusammengebrochen war. Der Junge lebte die meiste Zeit seiner Leben in seiner Heimatgegend, wo nicht gar an seinem Geburtsort, aber seine Mundart war, sagen wir, nichts so ganz die gewohnte. Viele wanderten „von drüben“ zu, viele wären auch gern daheim geblieben, aber die Angst nagte, die Grenze könnte vielleicht wieder dicht gemacht werden, und dann säße man fest im armen Land, im Paradies der Werktätigen, also nichts wie rüber auf die andere Seite. Der Gedanke, er sei einer „von denen“, war also nicht so ganz abwegig, aber wenn er auf die Frage, woher er käme, wahrheitsgemäß antwortete, von hier, wurde gemurmelt, der ist sehr wohl von drüben, der schämt sich bloß, es zuzugeben. Ja, das mit den Idioten, das hatten wir schon. Der ist von drüben, auch diese Deute bewährte befriedigende Erklärungskraft. Der ist von drüben, deshalb bleibt der für sich, damit das nicht rauskommt. Und schwul ist der sowieso, die hatten es schwer drüben, deshalb ist der so ablehnend. Das nimmt noch mal ein schlimmes Ende mit dem! Wenn der sich einfach nicht dran gewöhnen kann, dass er jetzt unter Menschen ist, die es gut mit ihm meinen. Wir meinen es doch bloß gut mit ihm! Aber was kann man von so einem schon erwarten.
Der hält sich für was Besseres. Deshalb schleppt der immer Bücher in seine Wohnung, damit wir sehen, er ist was Besseres. Deswegen guckt der durch uns durch, damit wir sehen, er ist was Besseres. Nur deshalb! Alles wegen uns! Deswegen redet der so komisch, damit wir sehen, er ist was Besseres. Deswegen bleibt der so für sich, damit wir sehen, er ist was Besseres. Der kriegt nie Besuch, ich seh das ja, ich seh ja dem seine Wohnung, wenn ich oben aus dem Fenster guck, nie kriegt der Besuch! Damit wir sehen, er ist was Besseres. Und dann fährt er gern in die Stadt, ganz wichtig, immer mit diesem Koffer, damit wir sehen, er ist was Besseres. Und wenn hier Straßenfest ist im Viertel, dann bleibt der unsichtbar, hat ihn noch nie einer gesehen, damit wir sehen, er ist was Besseres.
Der ist doch irgendwo ausgebrochen ist der. Der war in der Klapsmühle, doch, das weiß ich für gewiss, meiner Schwester ihre Frau, ich meine, meiner Frau ihre Schwester, die hat so einen mal gekannt, die kann das, die erkennt so einen, und der haben wir von dem erzählt, da hat die bloß abgewinkt, bloß abgewinkt hat die. Der ist ganz schwer gestört, der ist doch krank im Kopf, der hat voll einen an der Birne, und damit das niemand merkt, versteckt der sich in seiner Wohnung. Habt ihr das gesehen? Immer die Vorhänge vor! Das sagt doch schon alles. Der muss schwer Medikamente nehmen. Der war jahrelang in der Geschlossenen. Dass die so jemanden überhaupt wieder rauslassen! Aber das war schon früher so. Meine Mutter hat immer erzählt, wenn da mal einer wiederkam, wenn da mal einer entlassen worden war aus dem Lager, da ist der immer ganz still durch die Straßen geschlichen, keinen Mucks hast du gehört von dem, immer gesenkter Kopf, der hat mit keinem geredet, hat bloß seine Arbeit gemacht und ist dann in seiner Wohnung verschwunden, der hatt sein Fett weg gehabt, der hatt seine Lektion gelernt, das würd manchem guttun, wenn man das mal wieder einführte, da kenn ich einige, für das wär das die richtige Medizin, aber das darf man heute ja gar nicht mehr sagen.
Der hat schwer Schulden, und jetzt muss der die abarbeiten. Der hat einen Unfall gebaut, der hat unterschlagen, der hat was ausgefressen, der muss Schadenersatz leisten, und deshalb kennt der bloß die Arbeit. Ja, für die Folgen muss jeder selbst aufkommen, hätt er halt besser aufgepasst. Sagt doch alles, dass der kein Auto hat. Den Führerschein haben die dem weggenommen! Hat womöglich einen totgefahren, und jetzt muss er dem Rente zahlen. Der hat doch Schuldgefühle! Das frisst den doch auf! Sieht man doch!
Behaltet im Blick, keines von den Menschtieren, die so redeten, hätte sich selber als bösartig verstanden …
(Entnommen einem unveröffentlichten Manuskript Peter von Mundenheims. Dieser Ausschnitt veröffentlicht 22.11.2021, © Verlag Peter Flamm 2021.)