Das Feuer flackert und glost.
Der Klient hockt beim Feuer, von mürrischem Rot übergossen, und stochert mit einem angekohlten Ästchen in der Glut. Die Glut springt zischend auseinander, wenn er rührt, Asche flockt ab vom Holz, und die knisternden Funken bilden Gesichter, Gestalten, Länder. Der Klient starrt und murmelt, die Gesichter schneiden Grimassen, schlagen ihm Schnippchen, spielen ihm Possen, und er rührt wieder mit dem Hölzchen, dass sie sprühend durcheinandergemischt werden, und der Reigen beginnt von neuem.
Der Feuerschein tanzt und langt mit Lichtzungen hinaus auf die Wiese, die fette Weide; da liegen vier schwere Schatten, mit breiten Ochsengesichtern, selten bewegt. Tintenkleckse, dunkler noch als die Nacht. Wenn das Feuer aufglost, springt das Dunkel zurück, aber die vier Schatten bleiben und verschlucken das Licht, sanft und samten, nur die runden Augen glänzen. Die Augen der Nacht.
Der Klient murmelt und schimpft. Er spricht mit dem Feuer. Stochert in der Glut, kämpft mit den Gesichtern. Die Gesichter sind ein Unband, sie auferstehen aus der Verwandlung ins Ungestaltete, verhöhnen den Klienten, begrinsen ihn. Was soll er tun? Im Rücken hat er die Nacht, das Ungeheure, still ist das Dorf. Das Feuer verlacht ihn. Der Klient spürt, gleich wird er kommen, der Graus, dass der Atem jappend stockt, Eis schießt in die Beine, es gibt kein Vorwärts und Rückwärts, kein Wohin und Woher, nur das dort, das da, im Nacken, dass man den Kopf nicht mehr wenden kann, nur spürt, wie sich die Haare sträuben, und den kühlen Hauch …
Der Klient ächzt.
Rasch greift er sich Holzscheite und schiebt nach, bis es lodert. Den Umhang über den Kopf! dass das Gesicht beschattet sei. Der Klient sitzt unter dem löchrigen Leinen wie unter einem Zelt. Hier ist es sicherer. Er rollt spähend mit den Augen, sich umzudrehen wagt er nicht, aber da ist nichts, kein Laut, keine Anwesenheit. Langsam beruhigt er sich. Er greift nach dem Ästchen und macht sich daran, den Kampf mit den Glutgesichtern fortzusetzen. Aufmerksam! sie sind überall. Vautrin züchtige sie. Die Bosheit.
Moses Maimon, der dem Feuer zunächst liegt, betrachtet den Klienten mit stetem Blick. Die runden Ochsenaugen spiegeln. Der Blick ist nicht forschend, auch nicht leer, er schwimmt ganz ruhig in einem Universum der Sichtbarkeiten, die weich herangleiten und sich wieder auflösen, in stetem Wechsel, ein geschmeidiges Spiel, ohne Unruhe, ohne Hast, ohne Eile, Auftauchen und Verschwinden, ein bunter Wechseltanz. Das Ochsenhaupt mit den gewaltigen Hörnern ruht am Boden, die Samtnase versenkt in den saftigen Klee. Der Atem, aus unergründlichen Tiefen heraufgepumpt, pustet die zarten Pflanzenblätter auseinander, warum und lebendig, um dann die würzige Nachtluft hereinzuziehen. Gelegentlich gleitet der Feuerschein über die schwarze Flanke. Sonst keine Bewegung.
Ein Stück entfernt liegt Cornelius Agrippa, auch er das Kinn am Boden. Immer wieder fallen ihm die Augen zwischen, unendlich langsam hebt er dann die Lider, noch ein wenig in das Dunkel hinauszuschauen, das wohltätige Dunkel der Ochsennacht, unter sternglänzendem Himmel. Er ist gebettet in das, was immer schon war, das Liegen zur Nacht, die langsame Reise durch das Dunkel bis zur Kühle der Frühnebel, die Helle des Windes. In ihm ist kein Innen und kein Außen, nur die gleichmäßige Bewegung des Fortlebens, auf dem Rücken der großen Erde, die die Ochsen trägt und die Gräser. Die Erde ist ein Wal, auf dem die Seepocken und die Muscheln wachsen, oder eine Schildkröte, im warmen Ozean des Ur, die trägt auf ihrem Schild einen flutenden Wald aus Tang. Die Erde ist eine Wiese, die weidet ihre Herde.
Cornelius Agrippa schließt die blanken Augen, sie fallen zu, so langsam, noch ein Spalt, dann ist das feuchte Glänzen verhüllt, ganz und gar. In seinem breiten Ochsenhaupt fühlt er das Immer.
Hinter ihm, ineinander gelehnt, liegen Hermes Trismegistos und Diogenes Laërtius, das zweite Gespann. Sie bleiben stets zusammen, auch zur Nacht, in stiller Verträglichkeit. Zuweilen kommen sich die Hörner ins Gehege, wie geht das zu, sie wiegen dann die Köpfe, hängen und hakeln mit den Hornspitzen, und lassen es wieder, einfach so, es wird ihnen langweilig. Jetzt sind sie ein Berg in der Dunkelheit, einander verschmolzen, sie liegen zu weit ab vom Feuer, der Klient hätte sie näher herbeiholen sollen, aber was macht das, die Nacht ist voll Frieden. Nicht rührt sich.
Drinnen im Dorf öffnet sich eine Türe, klappt wieder zu. Leise, doch geschwinde Schritte tasten sich den Viehweg hoch, kundig, ohne fehlzutreten. Die zweite Schwester, die ledige, eilt zur Weide. In ihr ist Unruhe, sie hat es nicht mehr ausgehalten. Vor ihren Augen tanzt ein Bild, es ist ihr geworden aus der Herdwärme des Abends, sie kann die Gedanken nicht davon lassen … eine gewaltige Keule, zuckend, mit feuchter Spitze, von mächtigen Adern durchpulst, steil und groß, die Keule der Kraft … es benimmt ihr den Atem.
Als sie kommt, sitzt der Klient am Feuer wie vorher, den Umhang über den Kopf gezogen. Er zuckt zusammen, da er das Geräusch hört, erkannt dann aber den Schritt. Er blickt auf vom Feuer und sieht sie an, sie setzt sich neben ihn, sagt aber nichts. Sie hat rote Flecken im Gesicht, ihr Atem geht schnell, das kommt vom Laufen … ihre Stimme ist brüchig, sie berichtet vom Abend, und was Gabriele erzählt, und was nachher mit den Fremden abgemacht worden … dabei rückt sie dem Klienten immer näher, er kann nichts machen, es ist ja auch Nacht, Zeit des Zusammenrückens …
Moses Maimon hält den spiegelnden Blick immer noch auf das Feuer gerichtet. Zwei Gestalten sind dort jetzt, an sein Ohr dringen Laute, Gemurmel, das irgendwann unartikuliert wird, abgerissen, schließlich geht es in Keuchen über, die beiden Gestalten überwinden einander, da ist Zucken und Gestöhn …
Moses Maimon spürt, wie es sich regt in seinem Bauch. Er stößt behaglich auf … eine warme Masse zerkauter Pflanzen, schon entfärbt, steigt sacht und nahrhaft die Speiseröhre hoch, schiebt sich ins Maul, über die mahlende Ochsenzunge, Wärme und Fülle verbreitend …
Und Moses Maimon beginnt gelassen wiederzukäuen.
(Peter von Mundenheim, aus einem weiteren unveröffentlichten Manuskript. Dieser Ausschnitt veröffentlicht 21.11.2021, © Verlag Peter Flamm 2021)