Geheul der Verdammten

Über all dies dachte der Junge nicht nach, als seine Straßenbahn die Brücke querte. All dies war dunkel quälende Hintergrundmusik seines Daseins, er hörte sie schon nicht mehr, so wie einer die Uhr nicht mehr hört, die in seiner Küche tickt. Stünde sie still eines Tages, würde er vielleicht aufmerken.

Manchmal dachte er, müsste doch möglich sein, diese Musik aufzuschreiben, endlos dunkler Strom, mit klirrenden Spitzen. Kammerorchester, mit solistisch agierendem Frauenchor? Nur Soprane. Die hellen Stimmen betraut mit keiner anderen Aufgabe, als blinde Jammerschreie auszustoßen, nicht laut, nicht aufdringlich, nicht in der Absicht, den Hörer zu kränken.

Einfach einfangen das ferne ferne Geheul der Verdammten.

Ja, dachte der Junge, das wär vielleicht ein guter Titel, Geheul der Verdammten. Als stünde einer auf einsamer Mole, an der finsteren See, und aus der Dunkelheit dringt es verweht herbei, dort draußen stehen die Inselschroffen, weiß der Lotse, dort dringen die Schreie her, ausgebracht als Klangbaken, die Schiffe zu warnen, wir müssen hier navigieren nach Gehör.

Das ist eigentlich das Wesen von Musik, dachte der Junge, Navigieren nach Gehör, in diesen fernen Gewässern, Streicher und Oboen bräucht ich, und ein Klavier, aber die Holzbläser dürfen keinen Lärm machen, müssen die klagenden Melismen der Frauenstimmen begleiten flüsternd in kleinen Sekunden, dass die Frauen Mühe haben, den Ton zu halten, die Mühe muss hörbar sein, sie sollen rein singen, die Frauen, ohne Sängervibrato, dass die Dissonanzen zittern als Schwebungen.

Er hörte die Musik, wenn er so nachdachte, setzte sich zu Hause fiebrig an sein Klavier und fing an, Notenblätter vollzukritzeln, und wenn er nach Stunden aufstand, fand er seinen Mantel im Flur liegen, geworfen über die hastig abgestellte Tasche, er musste noch etwas essen, und in dreieinhalb Stunden würde der Wecker klingeln, ich könnte mich krank melden, dachte der Junge und tat es nie. Es war eine Art verquerer Stolz in ihm, der sagte: Ich beiß mich durch.

(Peter von Mundenheim, soweit unveröffentlichtes Manuskript. Dieser Ausschnitt © Verlag Peter Flamm 2021, 20.11.2021)