Lesen

Der Junge las gern, nein, das war es nicht, er konnte es nicht erklären, er wand sich wie ein Dosenöffner unter dem aufrollenden Deckel der Sardinenbüchse, er konnte nicht einmal das Wort „lesen“ in den Mund nehmen, ohne dass er sich selber reden hörte, und alles klang falsch. Alles falsch falsch falsch. Die Worte stimmten nicht überein. Wenn das Geander „lesen“ sagte, und er selber sagte „lesen“, so wurde von zwei Seiten eines Abgrunds her gesprochen, und die Laute auf der Seite des Jungen bedeuteten andere Dinge als drüben, wo das Geander sich sammelte. Das Geander stand dort drüben auf seiner Klippe immer gesammelt, der Junge stand immer allein, schon das verhinderte, dass man sich verständigen konnte. Wer aus dem Geander heraus sprach, hatte immer das unterstützende Grinsen und Glucksen und Kopfschütteln des Geanders im Rücken, und wenn das Geander das Wort „lesen“ sprach, würgte es sie vor Hohn.

Zuweilen auch bekam er zu hören: Ach, Sie spielen Klavier? Zur Entspannung?

Wurde ihm das ins Gesicht gegrinst, wusste er nicht, was sagen. Es gab keine Antwort, keine, die er hätte aussprechen können, mitten hinein in die Fragfassade. Die Wahrheit hätte gelautet: Nein, ich spiele nicht Klavier zur Entspannung. Die zwei Stunden am Klavier sind mein Zentrum des Tages, meine Wirklichkeit mein Eigentliches, und alles andere ist Klo und Notdurft.

Was er am Schreibtisch tat, in denjenigen seiner Leben, da er seine Romane schrieb, und was er am Klavier tat, wenn er seine Notenblätter vollschrieb, das vermochte er glücklich zu verheimlichen, ein überwältigender Trieb nach Selbstbewahrung verschloss ihm den Mund, das redest du nicht, sagte das Gefühl, das offenbarst du nicht, das verschweigst du.

Musst abstreiten, sagte ihm zuweilen die Weltklugheit, wenn sie auf seiner Schulter saß als der unwillkommene Gast, der sie war.

Dem Jungen, wartend an der zentralen Straßenbahnhaltestelle seiner Geburtsstadt, hatte einst eines schönen Sommertages eine der marodierenden Tauben auf seiner Schulter aufgebaumt, er hatte gestaunt über den Wirbelwind des Flügelschlags um seinen Kopf, und über die plötzliche Nähe des fremden Wesens, das ihm freundlich ins Ohr gurrte, er rührte sich nicht, blieb ganz gleichmütig stehen, ringsum war Aufruhr entstanden, man wollte ihn anschreien, merkt der das denn nicht, da sitzt eine Taube auf seiner Schulter, es war sogar fotografiert worden, mit den elektronischen Spielzeugen, die man bereits hatte, und dann war das Tier weggeflogen, jagender Luftstrudel im Haar des Jungen, just im Augenblick, da seine Straßenbahn einlief, und er stieg gleichmütig ein, ringsum gar nicht sich beruhigen könnend der Aufruhr, sieht der nicht, dass wir ihn ansehen, merkt der nichts, merkt der überhaupt nichts?

Auf diese Weise setzte sich ihm zuweilen die Weltklugheit auf die Schulter und gurrte ihm ins Ohr: Musst es machen wie alle, streite ab!

Und das hätte er ja nun wirklich machen können, dieser Junge, was wäre denn dabei gewesen, das anstößige Verhalten einfach abzustreiten, das Lesen das Klavierspielen? Ja sicher kann ich lesen, hätte er sarkastisch antworten können, aber ich praktiziere es weniger und weniger. Oder: Ja, ich hab ein Klavier zu Hause, aber ich rühr es kaum an.

Das hätten sie verstanden, die Frager, denn dass man sich mal ein Instrument angeschafft hatte, in der Gewissheit, eine Viertelstunde am Tag üben, und in einem halben Jahr hab ich das drauf, aber hallo, wenn solche Idioten wie der Muskulajewitsch das können, kann ich das zehnmal. Oder die Lehrbücher dieser oder jener Fremdsprache, die in jeder Wohnung im Winkel lagen, ja, da hab ich mal mit angefangen, aber ich komm einfach nicht dazu – nicht etwa, ich bin offenbar zu dumm dazu, ich bring offenbar die Energie nicht auf, sondern immer: ich komm einfach nicht dazu – das hätten sie verstanden, die Evasion, das Abstreiten. Aber die Wahrheit?

Was die Taube an der Straßenbahnhaltestelle anbelangte, so vergaß der Junge sie nie. Kam schließlich nicht oft vor, dass ein Wesen ungefragt, aus Versehen oder aus purer Freundlichkeit, seine Nähe suchte.

(Von Peter von Mundenheim, aus einem unveröffentlichten Manuskript. Veröffentlichung dieses Ausschnitts 18.11.2021, © Verlag Peter Flamm 2021)