Ich hab euch nichts zu sagen, dachte der Junge, dachte es an diesem Tag, dachte es an tausend Tagen, dachte es an jedem Tag, dachte es auch an dem Tag, da ihm das späte Mädchen sein Herz eröffnet hatte, und er verspürte das volle Gewicht der Erleichterung in diesem Gedanken.
Das ist ja blöd, dachte der Junge, volles Gewicht der Erleichterung? Nein, das ist nicht blöd, der Sinn der Worte erwächst doch zwischen ihnen, aus den Widersprüchen, die sie erzeugen. Ist wie mit den Tönen, zwei Töne für sich sind nichts, aber wenn sie zusammen erklingen, verweist die Dissonanz auf einen dritten, der steht an der Tafel wie ein steinerner Gast, einmal ihn gerufen, wirst du den nicht wieder los.
Ich habe euch nichts zu sagen. Welche Erleichterung! Nein, ich kann euch nichts erklären, und ich will euch nichts erklären. Jede Erklärung klingt falsch. Ich will nicht, dass ihr versteht. Dass ihr auch nur versucht zu verstehen.
Wir wollen doch verstehen, was in dir vor sich geht, wurde ihm manchmal nicht gesagt, aber doch bedeutet.
Für wen haltet ihr euch? dachte der Junge und sagte es nicht. Wieso glaubt ihr, ich bedürfe eures Verständnisses? Wo war euer Verständnis, als der Säugling in der Wiege lag und nichts gebraucht hätte als ein Paar warmer Arme, und eine tröstende Stimme? Wo war da euer Verständnis? Dabei sind die Bedürfnisse eines Säuglings doch nicht schwer zu verstehen? Wieso tut ihr so, als müsse irgendetwas an mir erklärt werden? Wenn ihr mir Erklärungen abfordert, lügt ihr, an mir sei irgendwas der Erklärung bedürftig. Für was haltet ihr euch? Für die Mehrheit, klar. Seid ihr ja auch. Aber bloß weil ihr die Mehrheit seid, heißt das noch nicht, dass euer Tun sich von selbst verstehe. Vielleicht ist es euer Tun, das der Erklärung bedürftig ist. Vielleicht ist jeder einzelne Blick von euch jedes einzelne Wort von euch der Erklärung bedürftig. Wieso seid ihr so? Warum sollte nicht ich euch das fragen? Wieso glaubt ihr, euer sei, mich zu beurteilen, und über euch selber müsst ihr keine Fragen dulden?
Mit welchen Worten immer ich mich erklären wollte, ihr würdet sie anders verstehen, als ich sie gesprochen habe, wir sprechen verschiedene Sprachen, die Worte und die Aussprache mögen noch so sehr sich ähneln. In meinem Wörterbuch bedeuten die meisten Wörter anderes als in eurem. Ihr habt ein gemeinsames Wörterbuch, ich habe meines. Wer sagt, dass eures das maßgebende sei? Weil ihr die Mehrheit seid? Dass ihr die Mehrheit seid, ist eure Schande. Ihr schiebt eure Schande vor euch her wie eine Bugwelle, und freut euch über die reiche Fahrt, die euch wird. Meine Grammatik ordnet die Syntax meiner Worte anders als eure, aber anders als ihr weiß ich die Regeln meiner Grammatik, ihr benutzt die euere nur, und bildet euch ein, alles müsste so sein. Nichts muss so sein wie es ist, und am allerwenigsten müsst ihr sein wie ihr seid, niemand zwingt euch dazu, ihr habt euch selbst dazu entschieden. Jeder einzelne von euch hat sich entschieden, zur größeren Schar zu stoßen, und jeder einzelne von euch trägt das Brandmal seiner Herde. Ist etwa das Vieh auf der Weide stolz auf das Brandmal an seiner Lende, das doch nur anzeigt, welchem Schlachter es zugehört? Ihr aber habt euch euren Schlachter selbst gewählt, und einem Schlachter zuzugehören, das nennt ihr stolz: Sinn.
Das Beste, was ich aus eurem Reden machen könnte, das wäre, eine klagende Musik draus zu komponieren, referierende Musik, darstellende Musik, aussingend das Geheul der Verdammten.
Oder einfangen euer Geschrei in der langen Litanei der Sätze, Sätze geformt nach meiner Grammatik, Worte entsprungen meinem Wörterbuch. Meinem, nicht eurem. Ich aber bin nicht der Dolmetsch meiner eigenen Sätze, sucht selber, ob ihr versteht. Ich habe euch nichts zu erklären, ich habe euch nichts zu sagen, wir sprechen keine gemeinsame Sprache.
Und vor allem, da ich euch nichts zu sagen habe, habt ihr mich nichts zu fragen.
(Peter von Mundenheim, aus einem unveröffentlichten Roman. Dieser Ausschnitt veröffentlicht 17.11.2021, © Verlag Peter Flamm 2021)