Qualitätsmenschen

Wir haben auf dieser Seite schon gelegentlich von Bessermenschen geredet, von Besserdenkern wohl auch. Weiß nicht mehr, ob der Ausdruck von PvM stammt oder von mir, ist aber auch egal. Unversehens fiel mir ein, dass die Bezeichnung „Qualitätsmensch“ die Sache ebenso gut und besser noch trifft.

Der Qualitätsmensch erkennt sich selbst als solcher an einigen einfachen Überzeugungen. Diese Überzeugungen sind plakativ, sie müssen es sein, sie müssen in einigen wenigen Worten vorgetragen werden können, denn die Qualitätsmenschen erkennen sich gegenseitig als solche, indem sie in wenigen hingeworfenen Andeutungen gesprächsweise ihre Verbundenheit mit diesen Überzeugungen bekunden. Begegnen sie einem, dessen Zugehörigkeit zum Qualitätsmenschentum ihnen fraglich erscheint, werfen sie misstrauisch Köderworte in die Debatte, es wird dann erwartet, dass der Fragliche anbeißt und sich bekennt, so oder so.

Ich persönlich, der Leser wird das bemerkt haben, bin kein Qualitätsmensch, ich bin nicht einmal richtig ein Mensch. Ich bin der letzte Dreck. Abschaum. Ich lebe unterhalb der Linie, wo nach Auffassung des Qualitätsmenschen der Mensch überhaupt beginnt.

Wie das?

Ich bin weiß, männlich, alt, hetero. Aber hallo! Kann man noch tiefer sinken? Nach Auffassung der Qualitätsmenschen nicht, denn es sind die alten weißen heterosexuellen Männer, die an allem Ungemach dieser Welt schuld sind, an allem. Die alten weißen heterosexuellen Männer, die müssen erstmal weg, damit es voran gehen kann mit der Welt!

Solche Position verschafft jedoch auch Vorteile. Ich wohne auf dem Dorf, da werden Hühner gehalten. Wie jeder Hühnerhalter weiß, sind die beiden neurotischsten Hühner im Schwarm das eine, das an zweiter Stelle in der Hackordnung steht, und das andere, das an zweitunterster Stelle gegen den finalen Absturz ankämpft. Das zweitoberste Huhn wird ununterbrochen von dem Alphahuhn gehackt, das Angst vor dem Konkurrenten hat, das zweitunterste wird von allen gehackt und muss sich immer noch verzweifelt wehren gegen die Drohung, ganz unten zu landen. Das ausgeglichenste Huhn im Schwarm ist das unterste, das hat sich mit seiner Pariastellung abgefunden, weicht dem Gehacke aller anderen routiniert aus und sieht zu, über die Runden zu kommen.

Wer ganz unten angekommen ist, der hat nichts mehr zu verlieren.

Als alter weißer heterosexueller Mann habe auch ich nichts mehr zu verlieren, ich bin schon ganz unten angekommen.

Die Qualitätsmenschen aber sind ununterbrochen im Endkampfmodus, denn sie stehen auf der zweitobersten Sprosse der Leiter, nicht auf der obersten.

Auf der obersten Sprosse stehen die, die wirklich das Sagen haben, in der Wirtschaft zumal. Die die Dinge wirklich machen. Die Banker die Manager die Firmeninhaber und -gründer, die Bosse.

Der Qualitätsmensch ist durchdrungen von der Gewissheit, die da oben sind zu Unrecht da oben, dem Qualitätsmenschen gebührt der oberste Platz, kraft seiner überragenden Einsicht. Am Qualitätsmenschen wäre es, die Dinge dieser Welt zu regieren. Als Qualitätsmensch ist er eigentlicher Mensch, nämlich Mensch, wie er eigentlich sein sollte, während alle anderen keinesfalls Menschen sind, wie sie sein sollten, und also nicht einmal richtig Menschen.

Der intellektuelle Besitzstand des Qualitätsmenschen lässt sich wie folgt umreißen:

Der Kapitalismus ist schuld.

Die Marktwirtschaft ist schuld, an allem.

Der Planet steht unter der imminenten Bedrohung durch die Klimakatastrophe, und die wird vom Markt verursacht, der Markt zerstört den Planeten.

Die Pandemie ist eine nie dagewesene Bedrohung der Menschheit, wir müssen uns schützen, durch eskalierende Maßnahmen, Mundschutz und Abstand und Impfung sind da erst der Anfang.

Die ungeheuren Reichtümer der Marktgesellschaften sind nicht etwa eine Folge des Marktgeschehens, sie sind vielmehr bereits vorhanden, und der Markt ist ganz im Gegenteil das Instrument der Reichen, die Gesellschaft auszubeuten und allen Reichtum exklusiv für sich selber abzuschöpfen. Wie wäre die Gesellschaft reich, wäre nur erst der Markt weg!

Opfer der Marktausbeutung sind vorweg alle Farbigen (die Schwarzen!) und alle Frauen, überhaupt alle Menschwesen, die nicht weiß nicht männlich nicht hetero nicht alt sind. Es ergeben sich Rangstufen. Wenn einer alt und weiß und ein Mann ist, aber immerhin schwul, hat er einen Bonus, bis auf weiteres, aber er bleibt natürlich unter Beobachtung.

Alle Ordnungen der Marktgesellschaften, die Wirtschaftsordnung die Gesellschaftsordnung die Rechtsordnung, haben nur den einen Sinn, die Zwingmacht der alten weißen heterosexuellen Männer aufrechtzuerhalten und zu befestigen und zu mehren, und alle Menschwesen von der Teilhabe wegzubeißen, die nicht männlich sind, nicht weiß, nicht hetero, nicht alt. Einen anderen Sinn und Zweck haben die Ordnungen der Marktgesellschaften nicht.

Wir wissen alle aus Erfahrung, mit Hirnen, in denen es so zugeht, ist vernünftiger Austausch nicht mehr möglich. Die Glaubensinhalte, wie sie hier kurz angedeutet wurden, sind den Qualitätsmenschen Persönlichkeitsprothese. Sie brauchen keine Persönlichkeit, sie haben nicht einmal einen Begriff davon, was das ist, sie haben ihr Geglaub. Das aber verteidigen sie mit Zähnen und Klauen, denn was wäre der Qualitätsmensch noch, hätte er sein Geglaub nicht mehr? Das Geglaub von der Alleinschuld der alten weißen heterosexuellen Männer?

Im Besitz seines Geglaubs erkennt sich der Qualitätsmensch als der Besorgte der Feine der Sensible der Durchblicker, er ist der Bestürzte und Betroffene, er ist vor allem der Checker, der sich nichts vormachen lässt. Er atmet im Wissen um seine Überlegenheit, er kann über alle Andersdenkenden nur noch den Kopf schütteln.

Als die Revolutionäre in Russland die Macht errungen und konsolidiert hatten, will sagen, als sie nach 1917 erfolgreich die ersten zehn Millionen ihrer Gegner unter den Rasen gebracht hatten, machten sie aufatmend erst mal Ferien, gern in Sotschi, dem edlen Resort am Schwarzen Meer. Ein Luxushotel neben dem anderen, eine behagliche Ferienwohnung geschmiegt an die andere, in Strandlage. Wie? hatte die Revolutionsgesellschaft schon so viel Mehrwert produziert, dass sie daraus Luxus generieren konnte? Selbstverständlich nicht. Die eleganten Hotels mit ihren Marmorwänden und Perserteppichen, die Luxusresorts, die Ferienwohnungen mit ihren Jugendstilportalen, sie stammten alle aus der Zarenzeit. Die alten Besitzer waren ermordet oder geflohen, die Revolutionäre hatten getan, was Revolutionäre immer tun, sie hatten in Besitz genommen, was sie nicht geschaffen hatten. Der volkstümliche Ausdruck dafür lautet „stehlen“, aber der Revolutionär, erst einmal an die Macht gekommen, hat es nicht mehr so mit der Volkstümlichkeit. Der Revolutionär, der in Sotschi aufatmend die Beine hochlegte, legte sie auf einen gestohlenen Tisch, und sein Hintern war gepflanzt auf eine gestohlene Ottomane. Die Tapeten an denWänden waren gestohlen, die silberne Tasse, aus der er seinen Tee schlürfte, war gestohlen, die pure Luft zum Atmen war gestohlen.

Als die Revolutionsgesellschaft nach sieben Mordjahrzehnten unterging, waren selbst die Schwellen in der Bahntrasse nach Sotschi immer noch dieselben, wie sie die zaristischen Ingenieure ausgelegt hatten. Die Revolutionsgesellschaft hatte gelebt aus dem Bestand, sie hatte gelebt von Diebstahl und Ausbeutung, sie hatte insbesondere die natürlichen Ressourcen ausgeplündert auf eine Weise, unvorstellbar in den Marktgesellschaften. Die Revolutionsgesellschaften hatten nichts geschaffen, was die Menschheit in irgendeiner Weise weitergebracht hätte. Keine Entdeckung in Physik Medizin Chemie, die der Rede wert gewesen wäre. Die Bewohner der Revolutionsgesellschaft wollten aber auch all die schönen Dinge haben, die die Bewohner der Marktgesellschaften hatten, die Fernseher Kühlschränke Autos PCs Waschmaschinen, und die Revolutionäre lieferten, indem sie Proben der entsprechenden Teile einkauften auf dem freien Markt und im Revolutionsland nachbauten, in der miesest möglichen Qualität. So hielten sie sich über Wasser, durch Diebstahl, bis zum Zusammenbruch. Sie erfanden nichts, sie bauten nichts, sie gestalteten nichts, sie brachten nichts zustande, sie waren Revolutionäre, sie waren dagegen, sie hatten für alles einen Plan, und hatten keinen Plan von irgendwas.

Zuweilen entstanden Kunstwerke in den Revolutionsgesellschaften, Symphonien, Gedichte, Romane. Die Urheber fanden sich dann in der Regel wieder als Flüchtlinge in den Marktgesellschaften, oder, wenn ihnen die Flucht nicht gelang, nahmen sie Aufenthalt im Gulag, der war dann ihr Resort.

Sollten die Qualitätsmenschen die Macht erringen über die Marktgesellschaften, die Macht, von der sie träumen, werden auch sie aus den Werten heraus leben, die sie nicht geschaffen haben und auch nicht schaffen könnten. Sie werden herrschen über allmählich verrottende Lebenswelten, denen sie keine Werte hinzufügen, und sie werden den allgemeinen Verfall auf Sabotage schieben, die Entschuldigung aller Revolutionäre. Revolutionäre wollen herrschen über Dinge, die sie selber nicht geschaffen haben und auch nicht schaffen können. Es geht um die Herrschaft, es geht um die Macht. Die Gesellschaft, im Würgegriff der Macht, wird um Luft ringen und in die Knie gehen. Das ist wegen der Sabotage! werden die Revolutionäre wissen. Wegen der Sabotage ist das, dass denen die Beine nachgeben! Für die Saboteure werden dann die Lager eingerichtet werden, wo Vernichtung durch Arbeit betrieben wird und die Genickschussanlage zum Planinventar gehört.

Wer glaubt, dass der Qualitätsmensch doch eigentlich nur das Gute will, sollte die Folgen bedenken. Die Qualitätsmenschen haben es immerhin schon geschafft, die globale Gesellschaft lahmzulegen einer Pandemie wegen, deren Bedrohung nur in der Einbildung existiert. Wenn wir das geschafft haben, werden sie sich fragen, was wird uns dann noch unmöglich sein?

(Dieser Text wurde geschrieben von Peter Flamm, aber Peter von Mundenheim steckt auch irgendwie mit drin, der kann sich da nicht einfach rausreden, möchte er wohl gern. Veröffentlicht auf dieser Seite am 13.11.2021, © Verlag Peter Flamm 2021)