Sinn

… das war es, was der Junge von Anfang an gesucht hatte in aller Literatur in aller Kunst in aller Musik. Das Lautwerden von Sinn. Keine Erklärungen keine Darlegungen. Keine Beweisereien. Niemand kann wissen, welches ist der Sinn der Welt. Vom Sinn der Welt kann nur gewusst werden: er ist. Dies kann gewusst werden mit überwältigender Gewissheit. Benennen aber kann diesen Sinn keiner. Der Sinn ist Geheimnis.

Und das genügt doch auch, dachte der Junge. Wozu den Sinn wissen dessen, was ich bin und was mich umgibt? Genügt zu wissen: alles, was geschieht, hat Sinn. Alles, was geschieht, macht Sinn. Ich muss nichts verstehen. Muss nicht grübeln nicht basteln nicht bosseln. Muss mir nichts zurechtlegen. Es genügt mir zu wissen: es mag passieren was will, es mag mit mir passieren was will, es ist sinnvoll.

Alles, was geschieht, ist geheimnisvoll. Daran erkennst du, dass alles sinnvoll ist. Deute, die erklärt, was geschieht, ist nichts wert und führt in die Irre. Deute, die die Rätselhaftigkeit eröffnet dessen, was geschieht: ist wahre Deute. Immer und unter allen Bedingungen. Deswegen ist schon immer in der Geschichte des Menschen auf dem Planeten Erde, immer und unter allen Bedingungen, Wahrheit geredet worden. Wahrheit wurde immer und überall dort geredet, wo das Geheimnis aufgedeckt wurde im Täglichen.

Wer Sinn entdecken will, muss nur zum Fenster hinausschauen, und muss sich überzeugen, wie unglaublich alles ist, was er da draußen sieht, wie unwahrscheinlich, wie unerwartbar. Wer erkennt, alles ist Rätsel, alles ist Geheimnis, der hat erkannt: alles ist Sinn.

Es gab diesen Maler, der hatte Federballspielerinnen gemalt, eine Gruppe geheimnisvoller, in sich gekehrter Frauen, eher Priesterinnen ähnlich, unterwegs zur Feier. Schaute man genauer hin, erkannte man, sie ähnelten sich wie Schwestern, sie ähnelten in der Tat der Schwester des Malers, er malte sie wieder und wieder. Es geschah nichts auf dem Bild, was der Rede wert gewesen wäre, und dennoch, je länger der Junge es betrachtete, desto dringlicher wuchs ihm überwältigendes Geheimnis entgegen, und ineins damit die Erkenntnis: dies Bild, dies gerahmte Bild, es ist Verweis, es ist Hinweis, es verweist auf einen überwältigenden fremden Sinn, Sinn von schrecklicher Schönheit, Sinn, den keiner benennen kann, nur anrufen in seiner überwältigenden Gegenwart.

Zuweilen ereignet sich dem Menschtier Sinn in Trümmern, in Ruinen Fragmenten Scherben. Geheimnis blitzt gern auf im Zerbrochenen, wird von banaler Ganzheit eher verdunkelt.

Da waren die Werke des Unnachahmlichen im Vorteil. Da sie labyrinthisch und unüberschaubar waren, eignete jedem Satz jedem Wort der Nachhall des Unabgeschlossenen, Fragmentarischen, als müsse noch etwas folgen, als sei etwas vorhergegangen, als sei alles noch nicht ganz fertig, oder als sei alles mehr als fertig. War jetzt Überflüssiges hinzugetan, oder Notwendiges fortgelassen worden? Einlässliche Analyse jeder Episode ergab invariabel: alles sinnvoll, alles abgeschlossen, alles bezüglich. Da die Geschichte aber stets weiterging, und neue Schichten lagerte an scheinbar Fertiges, wuchs alle banale Geschlossenheit hinein ins Offene, Unfertige. Und der Leser, eben sich beruhigt habend bei einem resümierenden Wort des Autors, muss erkennen, muss immer erkennen: da steckt noch mehr dahinter. Da ist noch was offen. Hinter diesem Weg ist die Welt noch lange nicht zu Ende.

Überall wartet Feier. Die Feier, zu der die Federballspielerinnen unterwegs sind, vermutlich. Alles Sein hat seinen Ursprung in einem ungeheuren Fest, ist Glanz und Schöpfung und Durchgang.

Dichtung ist dann Dichtung, dachte der Junge, wenn aus jedem Wort das Geheimnis wuchert, wie das Kraut aus dem Blumentopf. Wenn Sinn den Figuren rauskracht zur Schädelkalotte. Dichtung, die solchen Sinnes nicht gewahr ist, Dichtung, die den Leser den Hörer solchen Sinnes nicht gewahr werden lässt: ist das Papier nicht wert, auf das der Unverstand sie druckt.

Alles ist Sinn, wir haben nur keine Ahnung, welcher: das ist die Botschaft aller Dichtung, die diesen Namen zu Recht trägt.

Deshalb ist alle Dichtung unterwegs zu Feier und Fest, selbst dort, wo sie sich dem Kummer ergibt.

Denn müssen wir wissen, welches der Sinn sei? fragt die Dichtung, und antwortet gleich selber: müssen wir nicht. Alles Benennen von Sinn ist Verarmung und Verengung. Wer den Sinn der Welt benennt, beraubt die Welt des Sinnes. Niemand kann wissen, welches sei der Sinn der Welt. Jeder kann wissen, für gewiss: Sinn ist.

Aus der Unergründlichkeit des Sinnes ergibt sich Jubel und Feier.

Wenn er heimgekehrt war von seinen Abendwanderungen, der Junge, hinein in die Gelände der Nacht, und wenn er dann lag und las, sich vorarbeitete von Entdeckung zu Entdeckung, wusste er vor Glück und Entzücken zuweilen nicht, wohin sich wenden.

Alles ist Sinn, alles ist sinnvoll, nichts ist vergebens, nichts geschieht ohne Sinn.

Vieles geschieht ohne Grund, aber nichts geschieht ohne Sinn.

Alles ist Geheimnis. Du musst nur lange genug hinschauen, dann verrätselt sich der Tag.

Ging er in die Schule, oder besser: schleppte er sich zur Schule, so wurde ihm dort versichert, ihr müsst nur lange genug hinschauen, dann erklären sich die Dinge.

Er aber wusste mit zerbrechendem Herzen, zerbrechend vor Entzücken: Ich muss nur lange genug hinschauen, dann wird ein jedes Ding geheimnisvoll.

Die Schulbücher arbeiteten hin auf platte Erklärungen, der Junge wusste aber aus seinen Streifzügen durch die Bibliotheken, dass sie logen. Die Wissenschaften waren vielleicht aus auf Erklärungen, aber es ergab sich, dass eine jede Erklärung die Tore öffnete zu ganzen Städten voller Geheimnisse. Jede Antwort enthüllte tausend Fragen, an die keiner zuvor gedacht hatte, und mit jeder befriedigenden Erklärung mehrten sich die Rätsel ins Unermessliche.

Je weiter wir vordringen, desto unübersichtlicher wird alles, jammerten die engen Stirnen. Je weiter wir vordringen, desto weiter erstrecken sich die Länder ins Unbekannte, freuten sich die offenen Blicke.

Dem Menschtier ist gegeben, immer den Horizonten hinterherzurennen. Die entfernen sich, je näher es zu kommen meint. Glück ist dem forschenden Menschtier dann beschieden, wenn es das Entjagen der Horizonte als Geschenk begreift, denn allein die Flucht der Horizonte öffnet die immer neuen Gebreite. Dem Menschtier ist geschenkt, niemals gegen die Mauer zu knallen. Höchstens gegen die selbstgeschaffenen Mauern der Genickschussanlagen. Was aber IHRE Welt anbelangt, so ist der neuen Länder kein Ende. Wenn das Menschtier morgens aufsteht, hat es keine Ahnung, welche Ungedachtheiten es bis zum Abend wird ausgeforscht haben. Wissen wird es nur, es wird Ungedachtheiten geben, und immer neue, und immer noch neue, und jede Wegbiegung führt in Stadtteile, da waren wir noch nie! staunt das Menschtier. Es verstehe dies Staunen als Gabe und Geschenk, dann wird es Freude erleben unter IHREN Himmeln.

Wir haben keine Ahnung, was hinter der nächsten Ecke auf uns wartet, niemals, dachte der Junge. So ein Glück!

(Aus einem unveröffentlichten Manuskript Peter von Mundenheims, dieser Ausschnitt veröffentlicht 11.11.2021, © Verlag Peter Flamm 2021)