Lügner und Täter

… vielleicht würden die jungen Menschtiere von der Weisheit der alten eher etwas wissen wollen, wenn sie von eben diesen Alten nicht so gewohnheitsmäßig belogen würden. In der Schule wissen sie, wir müssen die Weisheitsworte getreu reproduzieren, sonst wird der Prügel gezückt, der mit den Zensuren, und also plappern sie nach, aber plappern ist nicht glauben, und das Menschtier, das die Schule verlässt, glaubt nicht im Ernst, es habe was fürs Leben gelernt. Du sollst nicht lügen, sagen die Alten, und die Jungen sehen zu, wie sich die nämlichen Alten gegenseitig die Hucke voll lügen, Tag und Nacht, und wenn die Jungen nachhaken, setzt es rollende Augen und Brülle und, wenn es schlimm kommt, Schläge. Das geht dich überhaupt nichts an! Hast du überhaupt deine Hausaufgaben schon gemacht? Kein Wunder, dass das junge Menschtier den alten Menschtieren nichts glaubt. Da es sich aber dennoch sehnt nach Rat und Belehrung, ist es verzweifelt auf der Suche nach glaubwürdigen Lehrern, und fällt auf den ersten besten pompösen Schwindler herein, der den Lehrer zwar überzeugend zu geben vermag, aber nur, weil er keiner ist. Denn für das Menschtier ist der Darsteller immer überzeugender als der, der wirklich ist was zu sein er sagt. Auf die Darstellung kommt es an! Was interessiert es das Menschtier, dass einer wirklich was kann? Das sieht man ja nicht. Aber die Darstellung! Die begeistert! Und der Darsteller ist umso überzeugender, je weniger störende Substanz er mit sich herumschleppt, in seinem Innern. Je weniger Innen er hat! Kann er all seine Kraft der Darstellung zuwenden! Wirkliches Können geht mit Bedenken und Verpflichtungen einher, zum Beispiel Verpflichtung gegenüber der Sache, Verpflichtung gegenüber der Wahrheit. Pfui! Das stört doch alles! Weg damit! Dass alle Kräfte frei werden für das überzeugende Gestalten der Darstellung! Denn auf die Darstellung kommt es an. Ihr werdet das beobachten auf Schritt und Tritt, wo immer ihr hinkommt: der Prophet gilt nichts, der Prophetendarsteller gilt alles, nicht auf IHRE Stimme kommt es an, der einer lauscht in Gehorsamkeit und Liebe, sondern dass er Bart und wehenden Mantel trägt! Denn daran erkennt man den Propheten! Der Betrüger gilt für einen ehrlichen Mann, der ehrliche Mann ist ein Spott. So ein Loser! Der erfolgreiche Liebhaber ist der, der von Liebe nichts weiß: welch Menschmännchen die Weibchen behandelt als Dreck, hat an jedem Finger seiner beiden Hände zehn kleben, welch Menschmännchen die Weibchen verehrt und respektiert, bekommt keines ab. Da reinfahren zu wollen, ist, als wolltet ihr einem Schwarm silberner Fischlein durch Anbrüllen das Exerzieren beibringen. Lasst es. Versucht es gar nicht erst.

Der Junge, er war doch das beste Beispiel dafür, wie sich dem Menschtier selbst die barsten Offensichtlichkeiten erst im Alter klären. Hätte einer versucht, ihm, da er noch ein Kind oder ein Heranwachsender war, eine oder alle dieser Offensichtlichkeiten beizubiegen, hätte er vielleicht kein Wort geglaubt. Er hätte, nach Art aller Menschtiere, von der Größe der Wirkung auf die Größe der Ursache geschlossen, und hätte deshalb protestiert, wäre ihm die schäbige Kleinheit der Ursache ad oculos demonstriert worden.

Er hätte es besser wissen müssen. Das Scheißvolk hatte Verbrechen begangen ohne Maß und Zahl, und zu Lebzeiten des Jungen wurden nach und nach die Biographien der fahnentragenden Täter aufgearbeitet. Der organisierenden und Beispiel gebenden Machthaber. In deren Anblick alle die kleinen Täter sich gerechtfertigt fühlen konnten, und auf die zeigend sie nachher hatten versichern können: Die waren das, wir doch nicht. Die Biographen hatten ihre liebe Not. Solange die Taten beschrieben wurden, war leicht Seite um Seite zu füllen. Aber wenn es darum ging, die Persönlichkeit hinter den Taten zu stellen, zerbröselten alle Auskünfte unter den Händen. Sätze wie: Je länger man Zwiesprache hält mit den Dokumenten, desto unsichtbarer wird die Person hinter den Taten – tauchten in der Literatur auf ad nauseam. Zunächst hatte der Junge gedacht, das ist doch der Offenbarungseid eines Biographen, wenn er sowas behauptet. Aber dann musste er einsehen, die großen Täter, das sind taube Nüsse. Hohle und leere Existenzen, die vernichten können und nicht bauen und deshalb umso inbrünstiger vernichten. Es waren Massenmörder darunter, die füllten das Tagebuch über eine Urlaubsreise mit penibler Aufzählung, wie oft sie „baden“ waren. Nämlich ins Meer gestiegen, das sich bekanntlich nicht wehren kann. Die Aufzählungen waren so peinlich genau, listenförmig, dass sie schon wieder auf Gestörtheit schließen ließen, nur leider auf eine Gestörtheit, die nichts Interessantes und schon gar nichts Großes an sich hatte. Geburtsnull unter dem Einfluss von Zwergenzwang. Der Junge lernte zu akzeptieren, wie die Forscher und die anderen Leser auch, dass die ungeheuerlichsten Taten unter Umständen von verachtenswerten Spottgeburten begangen werden, nachgetragene Erkenntnis, die den Opfern auch nicht hilft. Denn dass der Totschläger eine Null war, macht das Opfer nachher nicht weniger tot. Dass die Diebe Kanaillen sind, macht die ausgeraubte Wohnung nicht weniger leer. Ich habe euch schon davon gesprochen, dass, im Augenblick der Tat, der Täter für das Opfer die Sonne verdunkelt. Es ist auf einmal nichts mehr in der Welt als die niedersausende Keule, und genau das ist ja, was der Täter bezweckt. Groß sein, wenigstens in der Vernichtung! Aber von außen gesehen ist der Täter keineswegs groß, er ist weniger als ein Batzen Dreck, und was die Sonne anbelangt, sollte er dankbar sein, dass sie auch ihn bescheint, denn in der überquellenden Fülle der Welt bedeutet er: nichts.

Offensichtlich.

(Das schrieb Peter von Mundenheim in einem unveröffentlichten Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht 10.11.2021, © Verlag Peter Flamm 2021)