Normal

Hier ist Amy. Amy Buchmüller, ihr kennt mich ja. Hat mir keine Ruhe gelassen, dass Sandra auf dieser Seite schon einen Beitrag eingestellt hat, ich will auch was sagen. Und da hat es sich ergeben —

Also, ich hab angefangen, mir eine Serie auf Netflix reinzuziehen, die Serie war blöd, und ich hab schon während der ersten Folge aufgegeben, es ging um eine übergeschnappte Psychiaterin. Übergeschnappte Psychiaterin! Ich weiß schon, was PvM sagen würde, Tautologie, würde er tadelnd sagen, vielleicht hat er ja recht, schlagt selber nach, was das Wort bedeutet.

Aber was mich elektrisiert hat, das war, die Übergeschnappte fing auf einmal an, empört zu werden. Dass die armen Menschen, die sie behandle, als „nicht normal“ eingestuft würden. Was heißt das überhaupt, normal? fragte sie.

Ja, was heißt das.

Mir wurde auf einmal klar, da steht ein ganzer Sack von Problemen dahinter. Wenn in China, so heißt es doch gern, ein Sack Reis umfällt, was interessiert das den Rest der Welt? Wenn aber der Sack mit der Aufschrift „normal“ umfällt, sollte das jeden interessieren.

Ich hab also mal nachgedacht, ganz auf eigene Kosten und auf eigene Rechnung, und für die Folgen bin ich selber verantwortlich. Hier ist, was bei meinem Nachdenken rauskam.

Wenn wir sagen, „normal“, dann meinen wir ganz verschiedene Dinge, und daran hängen die Probleme.

Zunächst einmal wird gesagt, „das ist normal“. Du siehst einen auf der Straße liegen? Das „normale“ Verhalten ist, du kümmerst dich um den so gut es geht, und du rufst die Polizei. Oder einer fragt, wie wird dieses Wort ausgesprochen? Und du sagst, „normalerweise“ so und so. Normal, das heißt hier also, wie gewöhnlich gedacht und gehandelt und getan wird, durchschnittlicherweise, üblicherweise. Schnell wird aus der Durchschnittlichkeit die Norm. Das Normale wird normativ, das ist das Wort, hab ich aus dem Duden. Normal heißt dann nicht mehr, so wird das üblicherweise gemacht, sondern, so MUSS man das machen.

Was ganz anderes ist gemeint, wenn man von einem Menschen sagt, der ist doch nicht ganz normal. Das heißt dann, der ist nicht ganz bei sich. Umgekehrt ist dann einer normal, wenn er ganz bei sich ist. Wenn er mit sich selber übereinstimmt. Was aber bei dem einen Menschen normal ist, muss es bei dem anderen noch lange nicht sein. Für Shakespeare war es normal, Stücke zu schreiben. Für seinen Metzger, die Sau zu schlachten und die Teile zu verkaufen. Normal ist in diesem Sinne einer, der ganz bei sich ist. Normal ist es für Frauen, schwanger zu werden und Kinder zu kriegen. Für die Kerle ganz bestimmt nicht. Die Bandbreite dieses Normalen ist riesig. Da ist einer, der legt den Kranken die Hand auf, und die werden tatsächlich gesund. Eine andere geht und schrubbt den Boden im Bahnhofsklo, mehr ist nicht drin.

Egal aber, wie normal einer ist, gemessen an seinen Fähigkeiten und Begabungen, gemessen an seiner Veranlagung, er muss sich doch auch nach der durchschnittlichen Normalität richten, also nach der Normalität im ersten Sinne. Wenn der Shakespeare zu seinem Fleischer geht und einkauft, dann wird von ihm erwartet, dass er ungefähr weiß, was er will und worauf er Appetit hat, und vor allem, dass er regelmäßig seine Rechnung bezahlt, denn das ist das normale Verhalten, nach dem hat sich jeder zu richten, ob ihm selber das jetzt „normal“ ist oder nicht, ganz egal, da könnte der Shakespeare lange sagen, für mich ist es nicht normal, Rechnungen zu bezahlen, denn da steh ich drüber, der Fleischer will dennoch sein Geld.

Als ich soweit war mit Überlegen, ist mir klar geworden, wie abhängig wir doch alle sind von der durchschnittlichen Normalität. Wir können lange große Töne spucken, dass wir uns die „Tyrannei der Normalität“ nicht gefallen lassen dürfen, und dass auch die Abweichenden ein Recht darauf hätten, so zu sein wie sie eben sind, und dass eigentlich schon die Rede von „Normalität“ eine Unverschämtheit sei, und was man noch alles zu hören bekommt. Wenn aber einer, der so redet, nachher bei sich zu Hause den Lichtschalter anknipst, dann erwartet der wie selbstverständlich, dass auch wirklich das Licht angeht. Ist doch normal! Und dass all die schönen Geräte funktionieren, als müsste es so sein, all die Geräte, die wir haben, als müsste es so sein, PC Kühlschrank Glotze Auto was weiß ich, als wär das alles das Normalste von der Welt. Ist es auch, aber warum? Weil da draußen Leute sind, die sich um halb fünf in der Früh aus dem Bett schmeißen und ganz normal zur Arbeit gehen, zum Beispiel ins Elektrizitätswerk, damit das mit dem Lichtschalter und den schönen Geräten auch wirklich ganz normal klappt. Wenn diese Normalität nicht funktioniert, dann funktioniert gar nichts mehr. Wir erwarten diese Normalität überall, und wir werden ganz schön wütend, wenn die sich nicht einstellt. Wir erwarten von unserer Bank, dass sie „normal“ funktioniert, und von dem Geldautomaten erst recht. Wir erwarten vom Internet, dass es „normal“ funktioniert, dadran haben wir uns aber sowas von gewöhnt. Wir erwarten vom Aldi, dass der „normal“ aufhat, wenn wir kommen, und von der Stadtbücherei erwarten wir das auch. Wir können, jeder von uns, so stolz sein auf unsere Besonderheit und Unnormalität, wie wir nur wollen, aber unnormal zu sein, das können wir uns nur leisten, solange draußen alles normal läuft. Und je unnormaler wir sind, desto dringender sind wir drauf angewiesen, dass die Normalen da draußen ihr Ding machen. Egal wie viele schöne Stücke der Shakespeare geschrieben hat, und egal, wie normal das für den war, der hat sein Steak gebraucht, um bei Kräften zu bleiben, und das Steak hat ihm, ganz normal, der Fleischer geliefert.

Deshalb: ein Hoch auf die Normalität. Das mach ich von jetzt an. Wenn ich einer Flasche Wein den Hals brech mit meinem Mütterchen, dann werd ich von jetzt an anstoßen: Auf die Normalen!

(Das schrieb Amy Buchmüller für diese Seite, am 09.11.2021, © Verlag Peter Flamm 2021)