… sie besuchten also eine private Schauspielschule, die Pferdeschnauzige und das Ganzstiefelvieh, und lernten sich dort kennen. Die Pferdeschnauzige war „eigentlich“ eine große Sängerin, die Schauspielerei war nur zweite Wahl. Sie hatte weder die Stimme noch die Musikalität noch die Ausbildung, eine Sängerin zu sein, die Kinder der Menschtiere, die zu solchem Beruf begabt sind, beginnen im Alter von vier oder fünf Jahren zu lernen, ganz impulsiv und intuitiv. Nicht, weil sie singen müssen, sondern weil sie es einfach wollen. Es ist in ihnen, und da es in ihnen ist, bricht es aus ihnen heraus. Die Pferdeschnauzige wusste nur das Eine für gewiss, dass sie nämlich grandios war und kosmosmittig. Und unverstanden. Tragisch und verkannt.
Sie lief mit einer Gründlichkeit gegen die Wand, wie ihr es euch gar nicht vorstellen könnt. Sie sprach, wie auch ihr Vater, der Rasseunreine, den Dialekt des anmutigen Flusstales, da sie aufwuchs. Nichts dagegen zu sagen. Aber das Menschtier, das ernsthaft den Ruf in sich verspürt, Schauspieler zu werden, beginnt schon in jungen Jahren instinktiv, die Sprache der Bühnen nachzuahmen. Was auf der Bühne gesprochen wird, unterscheidet sich in allen Ländern des Menschtiers deutlich von dem, was man in den Gassen hört. Für die Bühne wird eine ziseliert tragende Aussprache verlangt, gebunden an keine bestimmte Region des jeweiligen Landes, im Akkord mit der geschriebenen Sprache, differenzierter und vielgestaltiger als das, was in den Straßen macht und lacht. Musikalisch weitbogig. Geeignet zur Darbietung von rhythmisch-melodischer Rede, manchmal ganz künstlich, dann wieder von einer Natürlichkeit, die mit der Natürlichkeit der Plätze und Straßenbahnen wenig zu tun hat. Wenn der Schauspieler spricht, spricht der ganze Körper. Muss der Hörer den Sinn der Worte erst über das Verstehen sich erschließen, hat der Schauspieler schon sein Ziel verfehlt. Vielmehr muss der Schauspieler den Sinn der Worte durch Stimmklang und Bewegung den Hörern, die Zuschauer sind, gleichsam aufdrängen. Sie verstehen machen, selbst wenn die Worte viel zu steil für sie sind. Die Girlanden und Ketten und Kaskaden der Worte! Der Schauspieler hat verstanden, was sie wollen, und bezwingt die Zuschauer, nun ihrerseits zu verstehen. Liest der Zuschauer zu Hause nach, erscheint ihm vielleicht rätselhaft, ganz unverständlich, was er von der Bühne herab doch mühelos verstanden hatte. Das Glotzen der Zuschauer, so lächerlich es uns Außenstehenden erscheinen mag, hat von daher seinen guten Sinn. Es gehört zum Geschäft des Schauspielers, die Aufmerksamkeit der Zuschauer gefangen zu nehmen, so dass sie mit allen Sinnen bei seiner Darbietung sind. Sie sollen eigentlich nicht zuschauen: sie sollen mitleben, miterleben. Der kundige Schauspieler vermag die schwierigsten Sätze so vorzutragen, dass selbst der schlichteste und kenntnisärmste Hörer sie versteht, einfach indem er ihren Sinngehalt in Bewegung und Ausdruck und Suggestion umsetzt. Die Suggestion kann so stark sein, dass der Zuschauer nachher vermeint, Sätze gehört zu haben, die nie gesprochen wurden. Solches zu erzielen, bedarf der Kunst bedarf der Persönlichkeit. Die Pferdeschnauzige hatte beides nicht. Der Schauspieler muss, um auf der Bühne Menschen darstellen zu können, und handle es sich um noch so künstlich-kunstfertige Gebilde, Interesse haben an den Menschwesen im wirklichen Leben. Er muss sie nachahmen können, nicht im höhnisch äffenden Sinn, wie das Ganzstiefelvieh es gerne tat, sondern aus dem impulsiven Antrieb heraus, das Verhalten und das Reden eines begegnenden interessanten Menschtieres nachzubilden. Oder eben auf der Bühne ein ganz neues, nie ersehenes Menschwesen zu erfinden, eine Zauberfigur vielleicht, die vom Himmel gefallen scheint.
Der Schauspieler muss bei Stimme sein. Das geht gar nicht anders. Er muss Töne bilden und nachbilden, er muss Stimmklänge kopieren und erfinden können. Ein Schauspieler, der einen Roman vorliest, lässt die Stimmen Dutzender von Figuren vor dem Ohr des Hörers erstehen, manchmal mit ganz minimalistischen Mitteln, einer geringen Hebung oder Senkung der Mittellage, einer leichten Verschiebung in der Obertonsäule über den Vokalen. Der Junge, der in seinem Alter ein leidenschaftlicher Hörer von Romanen wurde, indem er, Stöpsel im Ohr und sein Zweirad durch die Gelände seiner Region pedalierend, von den elektronischen Spielzeugen sich vorlesen ließ, was ihn eben interessierte, in der Sprache des Landes über dem Meer, insbesondere noch einmal alle Werke des Unnachahmlichen, und gleich noch einmal, von verschiedenen Sprechern – der Junge also erlebte in seinem Alter sonderliche Beispiele dessen, was ein begabter und kundiger Schauspieler zu leisten vermag. Einer zum Beispiel hob nicht die Stimme zur Darstellung einer sanften und fragilen jungen Frau, sondern senkte sie vielmehr leicht, mit fulminantem Effekt. Eine andere vermochte die dämonischen Laute einer bösartigen Zwergenfigur so bedrohlich hervorzustoßen, dass der einsame Radler auf der Nachtstraße sich zu fürchten begann. Es wurde fast zu etwas wie einer Obsession des Jungen, hinüber zu radeln in die Städte des Abends, unter nachtglitzernden Laternen unbekannte Wege sich zu suchen hinein ins Dunkelfremd, mal verkehrsbelebt die Wege, mal menschenleer, an Wohnsträßchen vorbeigleitend an Vorgärten, und dann die schläfrigen Kolosse nächtlicher Lagerhallen, im schweigenden Industriegebiet. Katzen schläfrig sich umschauend nach dem Vorüberfahrenden, die Straße kreuzend ohne Eile, drüben die dunklen Baumgebärden des verlassenen Parks. Das Blitzsilber der Straßenbahnschienen, und dann und wann ein letzter Bus zur Nacht, mit kaum einem Fahrgast im Fond. Leere Bank vor einer Kirche. Der weite Parkplatz eines vorstädtischen Supermarkts. Und dann wieder Häuschengewinkel mit bereitgestellten Mülltonnen, für die morgende Abfuhr. Der Junge treidelte und trieb und ließ sich treiben und bog ab, wohin es ihn gerade lockte, und freute sich, wenn er nicht mehr wusste, wo er war, in der großen Stadt, und im Geiste war er in der anderen Stadt, die ihm die Stimme im Ohr malte, in den Stadtlabyrinthen des Unnachahmlichen, Gaslaternen und Kutschengetrappel in den Silbensymphonien der fremden Sprache. War nicht mehr ganz in der richtigen Welt, der Junge, wenn er so tat, war ganz in der richtigen Welt.
Aber das nur nebenbei. Ihr versteht, gab zu allen Zeiten viele, die gern Schauspieler gewesen wären, gab zu allen Zeiten nur wenige, die diese Bezeichnung auch wirklich verdienten. Die Pferdeschnauzige und das Ganzstiefelvieh gehörten nicht dazu.
Die Aussprache, wie sie auf der Bühne verlangt und gepflegt wurde, wurde an der Schauspielschule nicht nur gelehrt, sie war auch in Nachschlagewerken niedergelegt. Es gab das maßgebende Wörterbuch. Darein alle Worte gesiebt, die auf der Bühne wohl vorkommen mochten, zusamt ihrer Aussprache, dargeboten in einer standardisierten Umschrift, deren Zeichen zu lernen waren. Wie schon gesagt, Schauspielschüler, die einen ernsthaften impulsiven Beruf zu diesem Beruf empfinden, die beginnen schon als Kinder, nachzusprechen und nachzuahmen, was sie von der Bühne hören, oder von der Leinwand. Sie sind auch erfolgreich mit diesem intuitiven Nachmachen, weil und wenn sie die Begabung dazu haben. Manch Menschtier kann das, sozusagen von Geburt an: andere Menschtiere nachahmen, bis hin zu Eigenarten des Ganges, der Kopfbewegungen, und eben der Redeweise und Aussprache. Gibt Menschtiere, die können zu hoher Erheiterung ihrer Zuhörer die Dialekte ihres Landes täuschend imitieren, können das schon als Schüler, machen gerne die Lehrkräfte nach, verschaffen sich Ruf und Ansehen mit solcher Fertigkeit, und es heißt dann wohl, der ist zum Schauspieler geboren, und das ist lobend gemeint, während sonst die Aussage über ein Menschtier, der sei ein Schauspieler, nicht unbedingt eine Empfehlung darstellt. Die Pferdeschnauzige konnte keine Mundarten imitieren, sie konnte nicht einmal die Bühnensprache imitieren, sie sprach nur den Dialekt ihres Heimatortes, lebenslang übrigens, und alles, was sie von der Bühne mitgenommen hatte, war dieses idiotische Nasen bei breitgezogenen Lippen, das sie für kultiviert hielt. Kultiviert bis in die Fingerspitzen.
Wie kam eine so verhemmte und verschrobene Schachtel dazu, ausgerechnet Schauspielerin werden zu wollen? Sie wollte grandios sein, und war überzeugt, sie sei es. Ihr seht, zu welcher Realitätsblindheit der Eigendünkel das Menschtier verleiten kann. Sie hatte keine Voraussetzungen, keine Begabung, nicht einmal den wirklichen Willen. Nur ihre Überzeugung, die hatte sie, ich bin grandios ich bin kosmosmittig. Das müssen die doch endlich sehen!
Sie sahen es nicht. Sie fürchtete sich vor den Blicken der anderen, wie sich ihr Sohn später davor fürchtete, wenn auch aus anderen Gründen. Sie konnte nicht aus sich herausgehen. Aus sich herausgehen zu können, ist aber das erste und selbstverständliche Geschäft des Darstellers. Es ist egal, was er denkt und fühlt: er soll so tun. Er soll zeigen. Er soll darstellen. Mit seinem ganzen Körper soll er ganz Darstellung sein. Sie dachte: Meine tiefen Gefühle! Aber was nützen die tiefen Gefühle eines Schauspielers, wenn man sie nicht sieht? Dafür braucht man den Schauspieler nicht. Die Pferdeschnauzige aber, sie war nicht nur von der Tiefe ihrer Gefühle überzeugt, sondern auch davon, dass alle anderen solche Gefühle gar nicht hätten.
Sie konnte das Wörterbuch der Bühnensprache nicht konsultieren, warum wohl, sie konnte überhaupt kein Wörterbuch konsultieren und kein Lexikon, denn sie wusste das Alphabet nicht. Sie wurde zurechtgewiesen und erregte Befremden. Irritation. Sie vergrub sich nur umso tiefer in ihre tiefen Gefühle. In ihre Grandiosität. In Wahrheit bin ich grandios! Das sehen die ja alle nicht! In Wahrheit bin ich viel besser, in Wahrheit bin ich viel mehr als ihr alle!
Sie hätte sich jetzt hinsetzen können und schleunigst das Alphabet einüben. Keine Sache. Wenige Tage hartnäckiger und anhaltender Arbeit hätten genügt, und sie hätte das Ding gemeistert. Einfach ein beliebiges Buch aufschlagen, lesen, und der Reihe nach alle vorkommenden Wörter aufsuchen im Wörterbuch. Sie tat das nicht, sie tat das lebenslang nicht. Es ist fast unbegreiflich, aber lernt, solches ist nicht ungewöhnlich unter den Menschtieren. Sich hinzusetzen und das Nachschlagen im Wörterbuch einzuüben, das hätte das Eingeständnis bedeutet: Ich kann das nicht. Zu diesem Eingeständnis war die Hochstaplerin nicht bereit. Weder vor sich selber noch vor allen anderen, vor sich selber aber zuletzt. Unter keinen Umständen. Lieber hielt sie sich an ihrer Tiefe fest und ihren tiefen Gefühlen und ihrer Unverstandenheit und ihrer tragischen Verkanntheit. Und an allen verfügbaren Stoffen, die sie sich zusammen mit dem Ganzstiefelvieh reinpfiff …
(Aus einem unveröffentlichten Manuskript Peter von Mundenheims, auf dieser Seite veröffentlicht 08.11.2021, © Verlag Peter Flamm 2021)