Mumien

… die geleerte Kloake sah nachher seltsam kahl, seltsam klein, seltsam nach Wohnung aus. Als könnten hier, nach erfolgter Grundreinigung und Tapetenwechsel und Anstrich, durchaus anständige Leute wohnen. Menschen. Die ein Leben hatten. Irgendwas, was sich rechtens als Leben bezeichnen ließe. Der Junge warf diesen letzten verstohlenen Blick in die Zimmer, als unten auf der Straße die Packer die Gurte festzurrten im Möbelwagen. Keine Spur von der Mumie keine Spur von den Leichen. Die Mumie die Leichen machten wahrscheinlich mit beim Umzug. Sie waren nicht gebunden an die Wohnung an das Haus, sie waren nicht einmal gebunden an die Möbel, nicht an die durchhängenden Betten nicht an die dreibeinigen Schränke: sie waren gebunden an den Jungen. Auch die Mumie auch die Leichen brauchen Nahrung. Nähren sich von der Furcht ihrer Verehrer. Nähren sich von der atemlosen Erstarrung, nähren sich von der Hypnose, die sie auslösen. War ein treuer Verehrer, der Junge, nährte die heimlichen Wesen. Seine Nachtangst war ihnen Räucheropfer, das stieg wohltätig in die geblähten Nüstern. So gefeistet hatte sie die Angst des Jungen, dass sie das Sterben der Angst noch einige Zeit überlebten, wie denn die alten Götter ihre Kulte allgemein noch ein bisschen überleben, vernachlässigten Pflanzen gleich, die ebenfalls für eine Zeit in ihren vergessenen Töpfen vor sich hin kümmern, bis sie aus Mangel an Wasser aus Mangel an Nahrung schließlich eingehen. So machten die Mumie und die Leichen den Umzug ihres treuesten Opferdieners erwartungsvoll mit, verborgen in irgendwelchen Schubladen oder Schrankfächern, geruhig harrend, dass das Rumpeln und Rasseln und Transportieren ein Ende nehme, dass Ruhe einkehre und Nacht und Schlaf und Dunkelheit draußen zwischen den neuen Wänden, dies vor allem, Dunkelheit, dass man herauszögern könne aus den bergenden Fächern und sich orientieren in der neuen Umgebung, die neuen Dunkelzimmer und Korridore und Kammern zu füllen mit der alten Angst, wie der Rauch der Opferfeuer und der Räucherpfannen füllt die Korridore und Tempelsäle. Kriechend pervadierend dringlich, ohne Eile. Ganz ohne Eile. Ganz ohne Eile würde man in stillem Nachtgang erkunden die Möglichkeiten der neuen Umgebung, hier das Zimmer mit dem schlafenden Jungen, hier das Wohnzimmer der pofenden Pferdeschnauzigen, da sie ihren alkoholisierten Träumen anhing von Grandiosität und Erwähltheit, dort das knisternde und klirrende alte Klavier, dort die Treppe hinunter zum Keller, dort die Küche, und überall das vertraute Gerümpel des Mobiliars, Sperrmüll und Feuerholz. Keine Eile keine Hast. Als Mumie als Leiche hat man Zeit. Eine Mumie passt überall rein, eine Leiche passt sich jeder Umgebung an. Keine Sache. Menschen vermögen sich keineswegs überall heimisch zu machen auf dem Planeten Erde, Leichen schon. Kein Ort, der ihnen verwehrt bliebe. Der Grund des Ozeans, die Höhen der Gletscher, wo das Leben schon nicht mehr atmen kann: alles behagliche Wohnstatt den Leichen. Im Alter des Jungen wurden sogar die Weiten des leeren Alls zugänglich den Leichen. Fühlten sich dort so wohl wie anderswo und überall. Fühlten sich zu Hause allerorten.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht 05.11.2021, © Verlag Peter Flamm 2021)