… er entsann sich also eines Tages, da schob er sein Zweirad steile Steigung berghinan, und zu seiner Rechten wurde der Ausblick hinunter ins blaue Land immer weiter und glänzender, und dann fand er seitlich einer Wegkurve einen behaglich ausgerichteten Rastplatz mit einer Sitzbank.
Entzückt folgte er dem Angebot und stellte sein Zweirad ab und ließ sich nieder, und es war still um ihn, so still, dass er den Sommerwind wehen hörte. Käfer krabbelten im Gras seitlich der Bank, und er blickte hinaus ins Land, wo doch irgendwo das Glück auf ihn warten musste?
Es muss doch einfach dort sein, irgendwo dort draußen, dachte er mit verzweifelter Inbrunst, es kann doch nicht sein, dass das Leben immerfort so weiter geht, immerfort mir ins Gesicht schlägt, was schlägt, mir ins Gesicht tritt mit dem Nagelstiefel, es kann doch nicht sein, dass immerfort nur Scheitern auf mich wartet, egal, welche Tür ich öffne.
Er dachte an die Pornoprinzessin und verbot sich den Gedanken sofort, weil er nur an sie denken musste, und schon bekam er keine Luft mehr, er wachte oftmals auf im Gedanken an sie, und rang erwachend um Atem, wie ein Erstickender.
Seitlich auf einer Bergkuppe lagerte ein Tempelchen, mit goldenen Säulen, die blitzten in der Nachmittagssonne, ich muss einmal auf diese Kuppe hinaufsteigen, dachte der Junge, hinaufsteigen und mir das Tempelchen ansehen, es gibt so viele Orte, da ich noch nicht gewesen war.
Er fühlte Entzücken bei diesem Gedanken, so viele Orte, dachte er, und irgendwo wartet das Wunder, es muss einfach warten, irgendwo ist die Tür, und sie öffnet sich, sie muss einfach, das hier kann doch nicht das Leben sein, das für mich bestimmt ist.
Er hörte den seidenen Wind knistern im Gras. Bienen brummten.
Über ihm die Sommerkuppel der Himmel, wie viele Himmel übereinandergetürmt, Himmel durchweht von blassblauer Seide? konnte man nicht sagen, der Junge blinzelte, und dachte, ich finde den Ort, oh ja bitte, ich finde ihn.
Irgendwo musste die Sonne stehen, aber der Junge sah sie nicht, die Welt war getaucht in ortloses Licht, gebadet in Licht, durchwaltet von Licht, Licht, das nicht blendete.
Und dann brüllte Benzingröl, rummses Kommen dröhnte in seinem Rücken, dieses Kommen, dachte der Junge, immer kommen sie, und tapfer hoffte er noch, die fahren vorbei, die Kommer, da wusste er schon, die werden nicht vorbeifahren, das sind Kommer, die kommen.
Und sie kamen, denn kommen, das ist, was Kommer machen.
Klatschplatsche Autotüren droschen die Luft im Rücken des Jungen von der Straße her, Straße etwas oberhalb des Aussichtspunktes, da er saß, und dann kamen knirsche Schritte den Weg herunter.
Kamen. Das ist so die Art von Kommern. Die Kommer sahen, da sitzt schon einer, und wäre der Junge in dieser Lage gewesen und hätte gesehen, da unten auf der Bank sitzt schon einer, er wäre weitergefahren, oder, wenn ihn der Platz gar so sehr verlockt hätte, er hätte sich ein bisschen beiseit geschlichen und gewartet, ob der Okkupant da unten sich nach einiger Zeit vielleicht verzöge.
Und er hoffte, der Junge, hoffte gegen alle Erfahrung und gegen alle Vernunft, die Kommer da hinter ihm, die Kommer in seinem Genick, die möchten ebensolche Einsicht zeigen.
Taten sie nicht. Niemals. Kommer zeigen keinerlei Einsicht, Kommer kommen, das ist ihre Art, und die Welt des Jungen war voll von Kommern, mitgeborenes Schicksal.
Er sah hinaus ins Land, er wandte den Kopf nicht, als die Kommer kamen, schon damals riet ihm eine warnende Stimme, Blickkontakt zu vermeiden, wiewohl er das Ding mit der Müllverklappung noch nicht durchschaut hatte, aber seine Abwendung kratzte die Kommer nicht, keinesfalls, sie redeten, sie waren ganz Stimme, sie stimmten hell und fröhlich, denn Kommer haben niemals Kummer, die Tritte traten dicht heran an den Jungen, die Stimmen überstimmten den sitzenden Jungen, körperten dicht heran, und dann setzten sich die Kommer nieder, auf der Bank, direkt neben dem Jungen. Niederwuchtendes Gekörper.
Es ist dazu zu sagen, auf Grund eines Impulses, dem er lebenslang folgte, hatte der Junge sich nicht mittig auf die Bank gesetzt, sondern seitlich, es war also reichlich Platz neben ihm. Wann immer er eine Bank sah, auf die eine oder andere Weise, tat er also, nahm seitlich Platz und ließ Raum für andere. Wie sich von selbst versteht, kam er pausenlos über Bänke, da jemand schon saß, und der saß dann mittig, in breiter Dasigkeit. Bin ich der einzige, der Platz lässt? dachte dann der Junge erbittert, ohne jedoch an seinem Verhalten etwas zu ändern, denn Platz zu lassen für andere, das war einfach das Richtige, das riet ihm IHRE Stimme, und er hörte auf die Stimme, auch zu Zeiten, da er noch nicht wusste, dass es IHRE Stimme war.
Die Kommer pflanzten also ihre Ärsche nieder mit einer krachen Gewichtigkeit, dass die Bank sich bog, und der Junge hörte die Stimmen kreischen in den Lüften, jetzt sind wir hier, das ist jetzt unser Platz, hier machen wir uns jetzt geltend, das ist unsere Welt, hier beanspruchen wir unseren Platz, und du hast hier gar nichts zu suchen, wir sind die Befugten, und du bist der Unbefugte, wir sind die Berechtigten, denn wir sind die Richtigen, und weil wir die Richtigen sind, haben wir das Recht, uns breit zu machen.
Der Junge, Eis im Herzen, stand wortlos auf und schob sein Rad davon, den schmalen Weg hinauf in Richtung der Straße, ohne einen Blick auf die Kommer zu werfen.
Ich wollte doch bloß ein bisschen da sitzen, dachte er. Nur für ein paar Minuten, es war so friedlich da. Warum wird mir das nicht gegönnt? Nicht einmal das? Dieser kurze Moment des Aufatmens?
Er wusste es noch nicht, und wusste es doch, hätte er sich auf dieser Bank nicht niedergesetzt, die Bank hätte womöglich den ganzen Nachmittag friedlich gestanden in ihrer Einsamkeit, kein Kommer wäre gekommen, denn auch die Kommer erfüllen nur ihre Aufgaben, und die einzige Aufgabe eines Kommers ist zu kommen, und kommen kann er nur wohin, da einer schon ist, das versteht sich ja von selbst, denn wäre der Junge nicht dagewesen, hätte auch niemand dazukommen können.
Der Junge gewann die Straße und sah das Fahrzeug der Kommer. Der abkühlende Motor knackte behaglich unter seiner Haube, selbst der Motor hatte ein Leben. Der Junge biss sich auf die Lippen, dann schwang er sich in den Sattel und trat bergan, wiewohl die Steile erheblich war.
Er hatte nicht mehr weit bis zu Hochebene, und dort, nach einiger Strecke im blauen Sommerwind, fand sich eine weitere Bank. Hier setzte nieder sich der Junge, vielleicht doch noch ein bisschen Erholung zu finden, und seine Gedanken wüteten wider ihn, wie das ihre Art war.
Ich hab doch nichts getan, dachte er, ich wollt doch bloß ein bisschen da sitzen, warum ist mir das nicht gegönnt, nicht einmal das.
Er wutete sogar gegen SIE. Warum schickst du Kommer aus gegen mich, wo ich geh und steh? Was hab ich getan?
Er dachte damals noch nicht an SIE als an eine SIE, aber reden mit IHR tat er munter.
Wieder war der Nachmittag traumstill, wieder hörte der Junge das Wehen des Windes im Gras, das Summen der Bienen, fast bildete er sich ein, den flatterweichen Flügelschlag der Schmetterlinge zu hören, und nach einiger Zeit dann hörte er gesichert das Brummen eines Fahrzeugs, die Straße herauf auf die Hochebene.
Nach dem Wehen des Windes nach dem Summen der Bienen nach dem Tänzeln der Schmetterlinge muss einer die Ohren spitzen, das Brummen der Fahrzeuge hingegen drängt sich auf. Es macht sich geltend. Die Schmetterlinge denken gar nicht daran, sich geltend zu machen. Sich geltend zu machen gegenüber der Welt, gehört nicht zu ihren Vorhaben. Die Schmetterlinge sind einfach da, sie sind in der Welt, die Fahrzeuge aber machen sich geltend, und die Fahrzeuge gehören normalerweise Kommern.
Der Himmel war unendlich weit hier oben, wenige weiße Wolkenboote standen reglos in der Höhe.
Das Fahrzeug fuhr auf der Straße vorbei, ohne anzuhalten, und in der Tat, es war das Fahrzeug der Kommer. Unwillkürlich blickte der Junge hin, denn er war noch jung, in seinem Alter würde er die Kunst des kalten Ignorierens endlich beherrschen, und in den Seitenfenstern wandten glotze Gesichtsscheiben sich ihm zu, Gesichtsscheiben sich drehend auf zapfenförmigen Hälsen.
Fleischmaschinen, Teigfassaden.
Und der Junge hörte erneut das Geschrei in den Lüften. Da ist er, das ist er, der Komische von vorhin, das ist der wieder, genau der, jetzt sitzt der hier, da müssen wir gucken, müssen wir einfach, es würde uns reißen, wenn wir nicht guckten, oppma, oppmawassieht, im Gesicht.
Aus dem vorüberfahrenden Motorgefährt heraus starrten sie ihm stierend, starrten sie ihm spießend ins Gesicht.
Denn dies ist stets das innerste Bestreben des Geanders, ob Kommer oder Okkupanten oder was immer, innerstes Bestreben, hineinzustieren in Gesichter, mit spießenden Blicken, oppma, oppmawassieht, im Gesicht, Gesichter sind für das Geander überhaupt nur insofern von Interesse, oppma, oppmawassieht, im Gesicht.
(Aus einem unveröffentlichten Manuskript Peter von Mundenheims, dieser Ausschnitt veröffentlicht 31.10.2021, © Verlag Peter Flamm 2021)