Das blutende Herz

Bus. Dieses Zischen der Türen, bei jedem Öffnen und Schließen!

Irgendwo hinten im Gedränge die Sylphide, Wunder aus Kalkblau und Silber und Blond, fast weiß die Haut. Sie ist ihre eigene Insel, sie sitzt immer, der Junge steht irgendwo vorne gegen die Fahrertür hin, versteht sich von selber, dass er steht, er ist schon froh, dass er sich überhaupt noch hatte hineinquetschen können in den Rumpelkoffer.

Er kommt beim Aussteigen der Sylphide ziemlich nahe, schließlich, der Bus hat nur eine Tür, da man aussteigen darf, eine Mitteltür, und die öffnet sich hydraulisch zischend, vorher sind alle Fahrgäste vorschriftsmäßig nach vorne geschüttelt worden, denn der Fahrer bremst dynamisch, im letzten Augenblick.

Die Sylphide schlendert ihres Weges, Schultasche am Arm, ohne sich umzuschauen, und der Junge blickt ihr hinterher, und hat das Gefühl, da geht es dahin, mein ganzes Leben, was soll ich bloß tun.

Dabei kommt es zu einem kleinen Unfall, den hat das Schicksal eingeplant, selbstverständlich hat es das. Die Sylphide verliert ein Haar, langglänzendes Blondinenhaar, zart wie ein Spinnwebfaden. Das Haar tanzt lange in der seidenkühlen Winterluft, die Sonne scheint, das Haar glänzt und schimmert und wiegt sich im Wind, und dann trudelt es gegen die Brust des Jungen, und dort schlingt es sich um sein Herz, ganz absichtslos. Das Haar ist so fein, es schneidet hinein in das klopfende Herz, denn das Herz dehnt sich ja aus bei jedem Schlag, den es tut, und bei jedem Schlag, den das klopfende Herz des Jungen tut, schmiegt und schlingt sich das verlorene Haar der Sylphide enger um das Herz, und schneidet ein bisschen tiefer hinein, so dass es blutet. Nicht so stark blutet, dass der Junge daran gestorben wäre, nur eben so stark, dass immer und immer ein Tropfen Bluts quillt, immer und immer, für das ganze Leben.

(Das schrieb Peter von Mundenheim in einem unveröffentlichten Manuskript. Veröffentlicht auf dieser Seite am 28.10.2021, mit einigen leichten, aber wesentlichen Änderungen, © Verlag Peter Flamm 2021)