Gelingen und Vergeblichkeit

Der Junge kannte das Dilemma. Ich muss es wenigstens versuchen, sagte er sich, wenn er wieder einmal vor einer Tür stand, hinter der alle schon saßen. Hernach wurde ihm regelmäßig klar, ich hätte das gerade so gut lassen können. Aber dass ich es gerade so gut hätte lassen können, das weiß ich eben erst, wenn ich es versucht habe. Versuchte ich es nicht, müsste hinterher ich mir sagen, du hast es nicht einmal versucht, wie willst du dann wissen, dass es vergeblich sein würde? Irgendwann ist das Leben vorbei, und du siehst ein paar Dinge ein. Du siehst ein, dass alles vergeblich war, und dass du alle Mühen auch hättest unterlassen können. Du hättest ein ruhigeres Leben gehabt. Keine Vergeblichkeiten, keine enttäuschten Hoffnungen. Und all den Ansprüchen, die an dich herangetragen wurden, denen hättest du dich verweigern können, und hättest keinen Nachteil davon gehabt, sowenig du einen Vorteil davon hattest, dass du die Ansprüche erfülltest oder gar ihnen zuvorzukommen suchtest. Alles Mühen, alles Sorgen vergeblich, mit welcher Ruhe hättest du deine Bahn ziehen können, hättest du das Aussichtslose gar nicht erst angegriffen. Ja, aber um zu wissen, dass das Aussichtslose das Aussichtslose war, musstest du es ja erst einmal angreifen. Dummer Trick. Ewiges Schnippchen, das dir das Leben spielt, jeden Tag neu, und dass alles vergeblich war, das kannst du erst wissen am letzten Tag deines Lebens, und dann siehst du, ich hätte das alles lassen können, und hätte ein besseres Leben dabei gehabt, und nun ist es zu spät.

Klingt nach Erkenntnis, klingt nach Resignation, klingt nach lakonischer Einsicht. Ist aber nur die halbe Wahrheit, und also solche nicht einmal das. Denn die Wahrheit ist immer ganz und unteilbar, die halben Wahrheiten jedoch sind ganze Lügen.

Die ganze Wahrheit ist, es gibt keine Vergeblichkeiten. Die Würde deiner Versuche liegt nicht im Erfolg, sondern darin, dass du es überhaupt versucht hast. Das Scheitern und die Vergeblichkeit, das ist gar nichts. Es kommt nicht auf den Erfolg an, es kommt darauf an, dass du unaufhörlich dich bemühst. Dich bemühst um was? Das Richtige zu tun, was sonst. IHRER Stimme zu gehorchen. Und wenn du vor der nächsten Tür stehst zu einem Zimmer, da alle schon sitzen, und IHRE Stimme sagt, jetzt geh, überwinde dich, geh rein und stell dich der Sache, dann ist der Erfolg bei der Sache ganz gleichgültig. Dein Erfolg liegt darin, dass du IHRER Stimme gehorcht hast, das ist dein Überwinden und dein Gelingen. Es gibt kein Gelingen in der Menschenwelt, als dies eine, das immerfort darin besteht, das Richtige zu tun. Was ist das Richtige? IHRER Stimme zu gehorchen. Dies ganze Gerede, alles war vergeblich, ich hätte dies alles ebenso gut unterlassen können – das ist alles Windhauch und nichtig. Erfolg oder Misserfolg in der Welt des Menschtieres, auf dem Planeten Erde, das bedeutet gar nichts. Was einzig zählt, das ist deine Liebe zu IHR, und dein Gehorsam. Was einzig zählt, das ist, dass du in jedem Augenblick IHREN Willen erfüllst. Dass du in jedem Augenblick SIE schützest vor dem Hass des Widersachers, denn SIE wohnt in deinem Herzen und teilt alle deine Leiden, treu bis zum Ende, du bist nicht allein, SIE lässt dich nicht allein. Aller Wert und Sinn deines Lebens liegt darin, dass du in jedem Augenblick IHREM Willen gehorchst. Und nicht einmal das. Nicht einmal so viel wird verlangt. Damit du dein Leben als gelungen begreifen darfst, ist nur eines erfordert: dass du in jedem Augenblick wenigstens versuchst, IHRER Stimme zu gehorchen. Muss dir nicht einmal immer gelingen. Keinem Menschwesen gelingt das immer. Es genügt, wenn du es redlich versuchst, jeden Tag neu, dann sagt SIE, wohlgetan. Du verstehst, IHR kommt es nicht auf das Gelingen an, IHR nicht. IHR kommt es an auf den unermüdlichen Versuch. Der unermüdliche Versuch, der ist selber schon das Gelingen. SIE liebt dich. SIE wohnt in deinem Herzen. Du bist IHR Kind, SIE ist entzückt von IHREM Kind. Denk dich nicht klein und schmutzig und wertlos und einen Versager, du beleidigst SIE damit. Geh raus und stell dich der Sache, pack jeden Tag an, was dir aufgetragen. Kümmere dich nicht um Erfolg und Lohn. Auf den Versuch kommt es an.

Das verstand der Junge irgendwann, und ich selber hab für mein eigenes Bemühen keine andere Auskunft, und für euer Bemühen gilt das ganz genauso. Es kommt nicht an auf Erfolg und Gelingen, es kommt an auf den unermüdlichen Versuch. Wir sind geschaffene Wesen, wir sind nicht unendlich. All unser Tun stößt an Grenzen, aber diese Grenzen bestimmen uns nicht. Was uns bestimme, das sei die Grenzenlosigkeit unseres Mühens. Darauf kommt es an. An Grenzen stößt ein jedes geschaffene Wesen, das liegt im Begriff des Geschaffenseins. Die Grenzen, an die es stößt, die liegen nicht in der Verantwortung des geschaffenen Wesens. Was in unserer Verantwortung liegt, in unserer Verantwortung als geschaffene Wesen, das ist die Grenzenlosigkeit unseres Mühens. Jeden Tag neu, wie der Junge, jeden Tag treu. Auch uns ist aufgetragen, jeden Tag das Richtige zu tun. Auch für uns gilt, auf den Erfolg kommt es dabei gar nicht an, sondern darauf, dass wir IHREM Willen gehorsam sind.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript. Dieser Ausschnitt hier veröffentlicht am 26.10.2021, © Verlag Peter Flamm 2021)