Bellmacht

Die Hunde auf dem Planeten Erde sind von geradezu erbitternder Blödheit. Wer wüsste das besser als ein Briefträger. Das Hündchen, von dem ich hier rede, bewohnte Haus und Vorgarten an einer ruhigen Seitenstraße, der brachte der Junge in dem einen oder anderen seiner Leben jeden Tag die frische Post. Er war noch nicht oben in das Sträßchen richtig eingebogen, da fing das Hündchen unten schon an zu bellen, hysterisch, überschnappend, gellend. Es war entnervend. Das Hündchen sprang auf die Vortreppe seines Hauses, um den Jungen besser sehen zu können, denn es brauchte die Sichtigkeit des Feindes, damit die Wut so richtig wolkte, und seine Wut brauchte das Hündchen, um so richtig nach Leibeskräften kläffen zu können, es kläffte mit seinem ganzen kleinen Körper, als wäre das Fellbündel nichts als eine einzige Kläffmaschine, zu keinem anderen Zweck hineingeschaffen in die Welt, als eben zu kläffen.

Was lärmt das Tier so? dachte der Junge genervt. Ich bringe nur die Post, ich schiebe die Post in das hungrige Briefkastenmaul, gleich bin ich wieder weg.

Erreichte der Junge das Gartentor, brachte das Hündchen sich schier um, jeden einzelnen Tag. Es sprang innen am Tor auf und ab, spuckend und brüllend, durch sein Springen andeutend, es würde den Eindringling zerreißen, wenn der es wagte, das Tor zu öffnen.

Merkwürdig, sagte ein Nachbar, der sollte Sie doch langsam kennen.

Natürlich sollte der mich langsam kennen, dachte der Junge, ich komme herein in die Straße, ich werfe die Post ein, ich gehe wieder. Tagaus tagein. Warum führt das Tier sich so auf?

Und dann dämmerte ihm die Wahrheit.

Die Wahrheit war erwartungsgemäß lächerlich, aber auch unbestimmt abstoßend, ekelwertig geradezu.

Das Tierchen, von seiner Seite des Zaunes her, sah die Dinge anders, ganz anders. Es hörte, jeden einzelnen Tag, schon von der Nachbarstraße her das Briefkastenklappern, und es wusste, da kommt er wieder, der Feind, der Widersacher, der Unhold. Macht sich an den Gartentoren zu schaffen. Will eindringen! Deshalb kommt der! Arbeitet sich vor zu meinem Eigentum, zu meinem Präzinkt, zu meinen Gebreiten, deren Hüter ich bin, die zu schützen mir aufgetragen ist. Alles darf passieren, nur das eine nicht, dass dieser Widersacher eindringt in meine Gebreite. Und jeden Tag kommt der neu und versucht es wieder. Ich aber, ich bin auf dem qui vive, ich lasse mich nicht überraschen, ich wache, und wenn er kommt, der Eindringling, bin ich am Tor, und der macht sich dort zu schaffen, ich aber bin ja da, und schlage den Feind in die Flucht, mit meiner überragenden und unwiderstehlichen Bellmacht, damit mache ich das, es bleibt ihm nichts übrig, dem Feind, er muss einsehen, hier kommt er nicht rein, und also verzieht er sich wieder, knurrend und mit eingezogenem Schwanz, und da setze ich noch einen drauf und belle ihm hinterher, dass er gar nicht erst auf die Idee kommt, noch einmal umzukehren, und das würde er tun, wenn ich nicht Wache hielte und mein Gelände verteidigte, mit meiner überwältigenden Bellmacht. Und nur deshalb dringt der Feind nicht ein in meine Gelände, weil ich das verhindere, mit meiner Bellmacht. Wäre ich nicht da, der Feind würde reinkommen, ich bin aber da, so muss er sich verziehen. Er gibt aber nicht auf, der Feind. Nein. Man sollte meinen, irgendwann wird der schlau. Irgendwann müsste der sich an die Sache doch gewöhnt haben. Jeden Tag läuft der auf an meiner Bellmacht. Aber nein. Der spekuliert darauf, dass ich unaufmerksam werde, dass ich nachlässig werde, meine Pflicht versäume! Jeden Tag kommt der neu, der Feind! Und versucht es wieder! Und hat nur deshalb keinen Erfolg, weil ich ja da bin und ihn schon erwarte, und wäre ich nicht da, mit meiner Bellmacht, würde er reinkommen! Nur wegen meiner Bellmacht verzieht der sich wieder, jeden Tag neu! Ich aber bin wachsam, ich lasse mich nicht einlullen, jeden Tag stehe ich auf dem Posten, der kann kommen, so oft er will, ich erwarte ihn schon, und ich werde ihn in die Flucht schlagen, und er kommt nur deshalb nicht rein in meine Gelände, jeden Tag, weil ich eben da bin.

Ich könnte also noch hundert Jahre kommen jeden Tag, resümierte der Junge, es wär ganz egal, jeder Tag wär eine neue Bestärkung, hartnäckig versuche ich es wieder und wieder, niemals gebe ich auf den Versuch, und wenn ich mich wieder verziehe, unverrichteter Dinge, jeden Tag in öder Wiederholung, so ist es nur deshalb, weil diese Bellmacht mich erneut und nie versagend in die Flucht geschlagen hat, mein Fortgehen ist die direkte Folge der Bellmacht, es gibt keine Ausnahme, niemals stürzt ab die Bellmacht, immer verlässlich ist die Bellmacht, jeder Tag beweist und befestigt das neu, und nicht nur neu, sondern mehr und immer mehr, je länger das sich zieht, desto überzeugter wird das Tier.

Das ist nicht möglich, sagte der Nachbar. So blöd kann nicht einmal ein Hund sein.

Aber hallo, sagte der Junge.

Nun ja, so blöd sind nicht nur die Hunde auf dem Planeten Erde, aber das ist für den Augenblick nicht mein Punkt.

(Das schrieb Peter von Mundenheim in einem unveröffentlichten Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht 25.10.2021, © Verlag Peter Flamm 2021)