Die Parlamentarier in der Pandemie

Seit Beginn der Pandemie —

Schon falsch. Ich behaupte da implizite, es gebe hier eine Pandemie, denn beginnen kann eine Pandemie nur, wenn es eine gibt. Also noch mal von vorne.

Seit die Politik die Pandemie ausrief, hat sie Maßnahmen ergriffen. Maßnahmen! Das war das neue Ding. Politfuzzis traten auf, die profilierten sich vor den Wählern als der superscharfe Hund, der wo jetzt durchgreift. Gestalten, denen sprudelten beim Reden statt der Worte Girlanden von Weißwürsten aus dem Mund.

In der Demokratie gibt es eingebaute Sicherheitsfunktionen gegen diese Art von Politgreifern, nennen wir nur zwei: die Parlamente, und die öffentliche Meinung.

Die Parlamente sind nicht nur einfach so da, das weiß sogar ich, aus dem Gemeinschaftskundeunterricht, wiewohl ich doch im Unterricht nie aufgepasst habe, und dass ich nie aufgepasst habe, das macht sich heute bezahlt, ich bin darauf angewiesen, selber zu beobachten, andere erinnern sich einfach an das, was sie damals im Unterricht gehört haben, und was sie damals gehört haben, das sehen sie heute.

Was ich damals gehört habe, das sehe ich heute nicht, nämlich dass die Parlamente ihre Aufgabe erfüllten, für die sie doch da sind.

Wofür sind die Parlamente da? Um uns Gesetze zu geben natürlich, aber genauso wichtig: die Kontrolle der Regierung. Wirklich, die Regierung kontrollieren, das ist ihre Aufgabe, das glaubt keiner, aber das ist so, das steht sowohl in der Bundesverfassung als auch ausnahmslos in allen Länderverfassungen. Die Parlamente kontrollieren die Regierungen, die Regierungen sind gegenüber den Parlamenten rechenschaftspflichtig, und auskunftspflichtig sowieso.

Demnach müssten die Parlamente seit dem Tag, da die Regierungen die Pandemie ausriefen, ununterbrochen damit beschäftigt gewesen sein, den Regierungen einen heißen Herbst zu bereiten. Kein Sitzungstag, da die Regierung nicht vom Parlament eindringlich befragt würde. Was treibt ihr da? Warum diese Maßnahme, warum Ausgangssperre, warum Lockdown mit geschlossenen Geschäften und eingestelltem Nahverkehr und geschlossenen Grenzen? Habt ihr den Nutzen bedacht und den Nachteil? Wer hat euch das vorgerechnet? Habt ihr die Kosten bedacht, und die Folgen und die Folgekosten? Wer hat euch das vorgerechnet? Namen bitte! Habt ihr euch um Alternativen bemüht? Habt ihr die Wissenschaftler hervorgerufen, dass sie Modelle entwickeln sollen, was man statt Ausgangssperre und Lockdown machen könnte? Habt ihr die Sozialwissenschaftler befragt, was die Folgen anhaltender Ausgangssperre etc. sein werden? Ja? Namen bitte! Welche Forschungsprojekte sind angeleiert worden im Eilverfahren, um Alternativen zu entwerfen, alternative Modelle? Und darum habt ihr euch doch gekümmert, selbstverständlich habt ihr das, das ist eure Aufgabe, jetzt gebt uns Auskunft, uns, den Parlamentariern, denen ihr rechenschaftspflichtig seit!

Hat jemand davon gehört?

Und selbstverständlich hätten die Parlamentarier nicht nur in den Parlamenten so reden und rufen müssen. Sie hätten ihre Gesichter in die Kameras halten müssen, in die Fernsehkameras zum Beispiel, und sie hätten in einer Talkshow nach der anderen nach dem Sinn der Maßnahmen fragen müssen, nach Alternativen, nach den Folgen der Maßnahmen, nach den Kosten der Maßnahmen. Können wir das überhaupt bezahlen?

Ist das alles überhaupt sinnvoll?

Von wem hat sich die Bundesregierung beraten lassen, von wem haben sich die Länderregierungen beraten lassen? Mediziner? Virologen? Wieso das? Hätten Soziologen Wirtschaftswissenschaftler Politologen Juristen Sozialarbeiter nicht genauso viel zum Thema zu sagen gehabt? Wie war es möglich, dass von einem Tag auf den anderen fundamentale, im Grundgesetz festgeschriebene Freiheitsrechte auf dem Wege des Ordnungsrechts einfach ausgehebelt wurden?

Hallo, die Freiheitsrechte werden den Bürgern nicht von der Regierung und auch nicht von den Parlamenten „gewährt“, die Bürger haben diese Rechte, wir haben diese Rechte, das sagt das Grundgesetz, diese Rechte sind „unveräußerlich“, das heißt, wir können sie nicht einfach wegschmeißen, wir haben sie.

Hallo, warum ist das so wichtig? Wir sind der Souverän. Nicht die Parlamente, schon gar nicht die Regierungen. Wir. Wir bestimmen, wo‘s langgeht. Deshalb sind unsere Grundrechte „unveräußerlich“. Wir sind der Souverän. Dem Souverän können die Freiheitsrechte nicht genommen werden, er hat sie, und er lebt sie und übt sie aus, zum Beispiel in Wahlen.

Wahlen. Darauf muss ich bei Gelegenheit zurückkommen, das merk ich mir vor.

Für unsere Gesundheit zu sorgen, damit hat der Souverän, also wir, die Landesparlamente beauftragt, dezentral. Wäre es nicht Aufgabe der Bundesregierung gewesen, da beobachtend einzugreifen, den Landesregierungen zu sagen, hört mal, ihr vergaloppiert euch, es gibt zur Bewältigung dieser Notlage auch noch andere Kriterien als Ansteckungsstatistiken. Dies ist eine lebendige Gesellschaft, da draußen sind lebendige Menschen, die haben noch andere Sorgen als die eventuelle Erkrankung durch ein Virus, dessen Ansteckung sie in den meisten Fällen nicht einmal bemerken würden. Sucht nach Alternativen! Seht zu, dass ihr die Epidemie in den Griff kriegt, indem ihr die Maßnahmen in den normalen Alltag integriert, und nicht den Alltag in die Maßnahmen. Schon gar nicht sollt ihr alles Leben den Maßnahmen unterwerfen! Bildet ihr euch ein, das Leben ist nicht mehr dazu da, gelebt zu werden, sondern nur noch, um eure Maßnahmen auszuführen? Maßnahmen sind dazu da, das Leben zu erhalten, und nicht das Leben, die Maßnahmen zu fördern. So wie ihr euch aufführt, möchte man meinen, die Menschen leben nur noch, um eure Maßnahmen zu verwirklichen. Die Menschen leben aber, weil sie ein Leben haben, und welches Leben sie haben, das schreibt ihr ihnen nicht vor. Die Menschen wären schlecht beraten, wenn sie euch auch nur fragten, welches Leben sie haben sollen. Sinn einer freien Gesellschaft ist, dass die Menschen über Sinn und Inhalt ihres Lebens selber befinden.

Habt ihr die Bundesregierung so reden gehört?

Die Bundesregierung hat regelmäßig die Landesfürsten empfangen und hat Maßnahmen diskutiert, Maßnahmen Maßnahmen Maßnahmen, und von dem Alltag hat man nichts mehr gehört. Unserem Alltag. Dem Alltag des Souveräns.

Und wir haben uns das gefallen lassen, wie der letzte Hofköter, der vor dem gezeigten Knüppel den Schwanz einzieht.

Was sollte das Verhalten erwachsener Menschen sein, angesichts der Übergriffigkeit übergeschnappter Regierungen? Die kühle Auskunft: Ihr habt uns gar nichts zu sagen, wir sagen selber.

Dies war und ist für alle Zeiten die erste Pandemie, deren Entstehung und Verlauf sozusagen in Echtzeit beobachtet werden konnte. Wie oft in der Menschheitsgeschichte sind schon Pandemien über den Planeten gerollt? Wie oft geschieht es, dass ein neues Virus auftaucht, oder die Mutation eines alten? Alle zehn Jahre, alle fünfzehn? Werden wir jetzt also künftig alle zehn fünfzehn Jahre den Planeten stilllegen, weil nichts mehr gilt, keine Interessen keine Planung keine Entwürfe, kein Leben der Menschen mehr, nur noch der Schutz vor dem Virus, nichts sonst gilt mehr, vor dem Virus müssen wir geschützt werden?

Plötzlich wurde geredet, wir müssen alle sterben. Ja, wer hätte das gedacht! Das wusste man ja bisher gar nicht!

Ununterbrochen hätten die Parlamentarier nach der wirklichen Gefährlichkeit des Virus fragen müssen. Welche Todesrate steht zu erwarten? Wen interessieren die Ansteckungszahlen, wenn die allermeisten Angesteckten noch nicht einmal merken, dass sie angesteckt sind! Interessant sind allein die Fälle, die einen Klinikaufenthalt des Betroffenen nötig machen, und von diesen wieder allein die Fälle, die letal enden.

Wie viele von den Personen, die gestorben sind, waren schon so krank oder alt oder beides zusammen, dass auch ein gewöhnlicher Schnupfen ihnen den Rest gegeben hätte? Die armen Alten, man hätte ihnen wirklich noch ein paar Wochen mehr gegönnt, aber wir leben alle nicht ewig!

Habt ihr die Parlamentarier so reden hören?

Und wie hoch wäre also die Todesrate, wenn man die Alten und Gebrechlichen wegrechnet? Und deshalb wird die ganze Gesellschaft lahmgelegt, über Monate hinweg? Deswegen werden gerade die Schlechtweggekommenen, die Ungewaschenen also, und insbesondere die, die von Hartz IV leben, bestraft und gequält, als wären sie persönlich schuld? Wo sind die Politiker, die in den sozialen Brennpunkten sich sehen lassen und den Leuten vor Ort zuhören?

Habt ihr die Parlamentarier so reden hören?

Aber die Parlamentarier sind ja selber nicht vor Ort erschienen, um den Leuten zuzuhören. Des Parlamentariers höchste Sorge war, sich den Maulkorb vors Gesicht zu klemmen und gehörigen Abstand zu halten vor dem Mitparlamentarier. Der Parlamentarier hat sich von der Regierung, die er doch kontrollieren sollte, auf dem Verordnungsweg vorschreiben lassen, wann und in welcher Form er mit den anderen Parlamentariern überhaupt noch zusammenkommen dürfe. Im Ernst. Die Exekutive hat in diesem freiesten Land, das es je auf deutschem Boden gab, der Legislative vorgeschrieben, wann und wie sie sich versammeln dürfe, und die Legislative hat, mannhaft Schwanz zwischen den Beinen, dumpf murmelnd gehorsamt.

Aber das hatte ja die ganze Gesellschaft, den Schwanz zwischen den Beinen.

(Das schrieb Peter Flamm für diese Seite am 18.10.2021, © Verlag Peter Flamm 2021)