Die Wut der Infizierten

Jetzt hab ich mal angefangen, von Corona zu reden, jetzt mach ich auch weiter. Ein gutes Gefühl hab ich nicht dabei. Es ist, als ob ich auf einem dunklen Meer segelte, unterwegs nach einer neuen Küste, oder auch nach einer alten, ist ja egal, und die ganze Zeit drängt es mich, ich muss von diesem Meer runterkommen, denn in der Tiefe da unter den Deckplanken, da ist nichts und aber nichts, was der Kenntnisnahme wert wäre.

Habt ihr das verstanden? Nein, wahrscheinlich nicht, ich hab mich undeutlich ausgedrückt. Was ich sagen will ist, an diesem ganzen Pandemie-Kram ist nichts und aber nichts, was der Auseinandersetzung wert wäre. Was auch nur der Kenntnisnahme wert wäre. Die Welt ist angefüllt bis zum Bersten mit Dingen, die ich kennenlernen möchte, und ich weiß, mir geht es wie jedem Menschen: wenn es ans Sterben geht, werd ich nur Bruchteile von dem erfahren haben, was schön und gut wissenswert ist in der Welt. Das ist nicht anders. Es gibt Millionen Bücher in der Welt, Milliarden Gesichter. Wie viele Bücher kann einer lesen, hinter wie viele Gesichter blicken? Die Wirklichkeit da draußen ist ein Gebirge, und gründlich befasst haben wird man sich zum Schluss mit ein paar Sandkörnern. Das ist nicht anders, das ist ja auch nicht schlimm, im Gegenteil, es ist doch ein Grund zur Freude, dass die Wirklichkeit so gewaltig ist. Aber wenn das alles so ist, warum soll ich dann meine kostbare Zeit, das winzige Fiztelchen von Zeit, das ich habe auf dem Planeten Erde, darauf verschwenden, mich mit so einem frechen, ausgedachten Scheiß wie dieser Pandemie-Veranstaltung abzugeben?

Und überhaupt. Selbst wenn das alles eine ernstzunehmende Sache wäre, steht dennoch fest, alle Welt redet schon drüber. Da fragt sich doch, wenn alle sowieso schon drüber reden, wozu dann noch eigene Schälle druntermischen? Wer redet, soll was sagen, was noch keiner gesagt hat, oder jedenfalls nicht so, sonst lohnt sich das doch gar nicht. Sagt PvM. Ich füge noch hinzu: Wer redet, soll ausschließlich das sagen, womit es ihm ernst ist. Soll das sagen, und sonst nichts, was aus seiner Tiefe kommt. Soll über das reden, was ihn wirklich angeht und bewegt. Soll über die Dinge reden, von denen er wirklich was weiß.

Wie ehrlos, wie würdelos ist das denn, kreischend Satzgirlanden nachzuplappern, die in der Glotze vorgesagt werden? Plötzlich mit Wörtern wie Inzidenz und Impfquote um sich zu werfen und was es da alles gibt, und so zu tun, als sei das alles ungeheuer wichtig, weil ja in der Glotze gesagt wird, dass das alles ungeheuer wichtig sei, und wenn das in der Glotze gesagt wird, dann muss es ja stimmen?

Wenn einer sich so aufführt, was sagt der dann über sich selbst?

Ich war heute morgen bei meiner Zahnärztin. Das erste war, sie hat von Corona geredet. Vor ein paar Tagen war ich bei meiner Friseurin. Das erste war, sie hat von Corona geredet. Es ist egal, wohin ich gehe und wohin ich komme. Das erste ist, es wird von Corona geredet.

Weiß übrigens irgendeiner, warum wir heute alle streng verpflichtet sind, „Friseurin“ zu sagen? Als ich noch ein Kind war, hat alle Welt „Friseuse“ gesagt, und ich hab das Gefühl, das darf man heute nicht mehr. Aber als ich noch ein Kind war, haben am Spielplatz ja auch Sitzbänke gestanden, da haben sich die Alten aus dem Viertel gern hingesetzt und haben den Kindern beim Spielen zugeschaut. Das war ganz normal, alte Leute gucken gern den Kindern beim Spielen zu, das erinnert sie an ihre eigene Kindheit. Wenn heute ein Alter kommt und setzt sich hin und guckt den Kindern beim Spielen zu, wird die Polizei gerufen, und der Alte muss plötzlich bohrende Fragen beantworten, was er hier macht. Das alte Schwein! Der Spanner! Der Pädo! Macht sich an die Kinder ran, in aller Öffentlichkeit! Schämt sich noch nicht einmal, das alte Schwein!

Das Ganze nennt sich zivilisatorischer Fortschritt, und zum Fortschritt gehört auch, dass ein jeder erregt zu sein hat bis ins Mark über die Pandemie, und er hat seine Erregung zu zeigen, indem er über diese Pandemie ununterbrochen Wortgirlanden ausspuckt. Das ist heute Pflicht.

Mir fällt jedoch auf, dass es draußen gar nicht möglich ist, über Corona zu reden, höchstens über Corona Schröter, das war erst die Freundin und nachher die Intimfeindin vom alten Goethe, und über die zu reden, wär interessant, nur interessiert das keinen, also das lassen wir erst mal.

Nein, über die Pandemie kann man draußen nicht reden. Versucht es mal. Ihr kriegt euren allerersten Satz nicht raus, schon wird euch schreiend ins Wort gefallen. Alle wissen schon was, und alle wollen loswerden, was sie wissen. Alle sind erfüllt von Durchwusstheit (schönes neues Wort, Erfindung von Peter von Mundenheim, danke). In Wahrheit weiß keiner irgendwas, denn alles, was da draußen gewusst wird, ist Wissen aus achtundzwanzigster oder neunundzwanzigster oder fünfhundertachtundneunzigster Hand, alle Sätze sind im Feuilleton gelesen, in der Glotze erspäht, auf facebook geteilt. Die Zwerge rennen zur Arbeit, und kaum sind sie am Arbeitsplatz angekommen, brüllt es aus ihnen raus, was sie gerade eben im Autoradio gehört haben, und sie sagen nicht etwa, das hab ich gerade gehört, sondern sie brüllen, das ist meine Meinung, das ist ganz Ich, das ist meins! Mein Ding! Ich persönlich! Meine Meinung! Alles selbst rausgekriegt!

Sie sind erfüllt von Fremdmeinung bis zum Platzen, die Fremdmeinung kracht aus ihnen raus, wie der Dampfdruck den Deckel sprengt auf dem rumpelnden Topf.

Fremdgesteuerte Clowns. Oder sagt man Klone?

Manchmal, und das ist vor meinen eigenen Ohren passiert, fangen sie vor Wut an zu rappen, wie Eminem, es schäumt aus ihnen raus, und kein Wort ist ein eigenes, nicht eines, alles Worte aus neunundzwanzigster Hand, zugereichtes Zeug, Narrenklapper.

Also, dies gesagt, versuch ichs mal mit einem Versprechen. Sollte ich mich dazu durchringen, auf dieser Seite Worte über Corona zu verlieren, dann werde ich mich streng darauf beschränken, das loszuwerden, was mir selber aufgefallen ist, wirklich mir selber. Ich werd nicht erzählen, was ich in der Glotze gesehen habe, könnte ich ohnehin nicht, denn ich guck nicht in die Glotze. Ich werde nur das erzählen, was ich mitbekommen habe, in Person.

Versprochen. Fester Vorsatz.

(Das schrieb Peter Flamm für diese Seite am 13.10.2021, gewissermaßen in Vertretung für Peter von Mundenheim, der sich immer noch hartnäckig weigert, irgendein Wort über die Pandemie zu verlieren. Wie für alle Beiträge auf dieser Seite gilt auch für diesen: © Verlag Peter Flamm 2021)