Dann die Wiesen, Silbermond. Von Osten her zogen bauchwarme Wolken auf, verschluckten die Sterne.
Steinblaues Brodeln.
Die Mücken tanzten zur Tiefe, Michael Klagenfurt verspürte das süßbeiße Stechen, ohne sich zu wehren, zu Grund sank die Luft in nassen Fahnen, ein schwimmendes Meer wurde das Dunkel, der Teich der Dunkelheit, die Fische sprangen in ihren Tümpeln, wasserlinsenes Klatschen.
Michael Klagenfurt wollte sich gerade wenden, heimzukehren
(er fürchtete das blaue Klatschen der ersten Tropfen, das ihn zwingen würde zu hurtig humpelndem Galopp, der ihn doch nicht mehr rechtzeitig in den Schutz der Wohnung trüge)
da klang Klappern auf vor ihm. Pferdegetrappel. Der gelbe Laternenschein einer Droschke schwamm durch den Wiesenteich, ihre Blitzhüte zogen die Leuchtkäfer, artiges Zwinkern in der Smaragdwelt
(nein, nichts ist verloren, das Rauschen der Wiesen wird wehen in alle Ewigkeit, nichts ist verloren)
der Einspänner zog vorüber an Michael Klagenfurt, der blinzelte ins Laternenlicht, gezwungen, halb in den Graben zu steigen; doch nach wenigen Schritten hielt an das Gefährt.
Das „Brrrrr“ des Kutschers mischte sich dem fernen Rumpeln des Gewitters.
Knarrte das Seitenfenster der Droschke. Eine Mädchensilhouette beugte sich heraus, gebauschte Bluse, weißseiden; und kleiner Hut mit blauen Bändern.
Glitzersopran über den Wiesen; die Vokale der Summklang eines Cembalos, hart und klar, durchsetzt vom Gefunkel der Obertöne.
Wo willst denn hin, Kleiner? rief die Stimme. Fangt gleich an zu regnen, steig ein, ich fahr zur Stadt.
Michael Klagenfurt hatte noch nie den Wiener Dialekt vernommen. Erschrak, fühlte sich erinnert an die Furzorgel der Bayernhorde; aber da die Mädchengestalt winkte und einladend öffnete den Schlag: gehorchte er. Mit brennenden Wangen. Kletterte in den Einspänner. Starr wie ein Stück Holz. Trat fehl. Suchte heim den Kutschboden mit Händen und Knien.
Die Mädchenstimme lachte. Hell und ungeniert. Zuklappte der Schlag, und die Droschke setzte sich in Bewegung.
Was machst denn? fragte die lachende Stimme. Fallst mir gleich zu Füßen, na, das hat ma gern, da, setz dich, bist an Kavalier, hm?
Fühlte sich hochgeholfen Michael Klagenfurt, der helle Seidengeruch der Bluse umwehte ihn, verschwitzt und mit dröhnendem Kopf fand er den Sitz, und das Mädchen klopfte ihm die Kleidung ab.
In der rüttelnden Dunkelheit der Kutsche war ihr Gesicht ein helles Oval. Umrahmt von weißblonden, hochgesteckten Haaren. Und die Augen waren blau, gleißend blau, Saphirschimmer der Nacht.
Das Mädchen rückte dicht an ihn heran. Umschlang seinen Arm. Legte das Kinn auf seine Schulter.
Ich kenn dich, sagte sie. Glaubst net? Du heißt Michael.
Sie lachte wieder, da er zusammenzuckte, und ihr Atem war leicht wie Milch.
Da siehst, sagte sie, ich weiß alles. Möchtst gern wissen, woher? Hat mir ein Mäuschen geflüstert, na, wirst doch keine Angst haben vor mir? Hast noch nie ein Mädchen anfasst, das wett ich, brauchst net beleidigt sein, einmal ist immer das erste Mal, kannst mir glaubn, ich zeig dir alles, das gefallt dir, wirst schon sehen —
Fielen die ersten Tropfen, klatschten schwer auf das Wagendach, Michael Klagenfurt sank gegen das Mädchen, drückte den Kopf gegen ihre Brüste, Nebelweiche hüllte ihn ein, durchwirkt von Herzjagd, sie öffnete seine Hose, mit kundigen Nestelfingern, durchfuhr ihn ein Blitz, süß und stechend, und er verspendete sich. In die Mädchenhand. Hörte dabei ein hartes Keuchen, das war er selbst. Vergrub in die weiße Bluse sein Gesicht.
Scham. Heimweh. Verzehrende Zärtlichkeit.
Na, das geht aber schnell bei dir, sagte die lachende Stimme. Da siehst, ist ganz einfach, hast umsonst Angst gehabt, jetzt bist ein Mann.
Er fühlte seine Hose zugeknöpft werden, hörte wischende Geräusche, dann hoben die kleinen Hände seinen Kopf, dass er gezwungen wurde, in die gleißenden blauen Augen zu schauen.
Und das blasse Gesichtsoval neigte sich und küsste seine Lippen.
Ich heiß Mizzi, sagte das Mädchen. Schenkst mir was?
Er richtete sich auf und kramte hervor, was er in seiner Jackettasche trug, im Dunkeln nahm sie sich mit tastenden Fingerspitzen, was sie haben wollte, küsste ihn wieder, drückte ihm eine Visitenkarte in die Hand.
Da steht drauf, wost mich finden kannst, sagte sie. Na, und wannst die Karten mal verlierst, fragst einfach die Kutscher nach Mizzi, die kennen mich alle.
Sie zog die Klingelschnur, und die Kutsche hielt an.
Rauschte der Regen, fuhr eine Bö dazwischen, die wirbelte auf den Glitzerschauer, dass die Bäume schwankten gleich Wasserpflanzen.
Und Michael Klagenfurt fand sich draußen stehen, die Droschke rasselte davon, da beugte sich das Mädchen noch einmal aus dem Fenster und rief zurück: Du, Kleiner, und lasst dir was zum Anziehn machen, schaust ja aus wie an Konfirmand, geh, an hübscher Junge wie du.
Und das blitzende Lachen rauschte davon, im Regentumult, in der Windsee.
Geduckt und schwach stolperte heim Michael Klagenfurt, war nur wenige Schritt von seiner Wohnung abgesetzt worden, in seinem Kopf wirbelten die Gedanken, Stolz schwoll in ihm auf, jetzt bist ein Mann.
Er stürzte ins Haus, durchweicht bis auf die Haut; und hinter ihm schlugen die Donner ihre Türen zu, dass der Widerhall dröhnte in die fernsten Gewölbe.
(Dies schrieb Peter von Mundenheim in „Elegie auf den Tod eines Dichters“, Druckfassung Seite 44-47, erhältlich bei amazon oder im Buchhandel. Dieser Ausschnitt veröffentlicht 10.10.2021, © Verlag Peter Flamm 2021)