Literatur und Fälschung

An seinem vierzigsten Geburtstag wurde der Schriftsteller F. der Fälschung bezichtigt. Eine überregionale Wochenschrift enthüllte, F. habe seinen letzten Roman komplett gefälscht, von A bis Z und Kapitel für Kapitel, alles Lüge, jeder Buchstabe ein Betrug. Was halten wir in der Hand? fragte das Blatt rhetorisch und gab die Antwort: Es sieht aus wie ein Roman, es liest sich wie ein Roman, man legt es beiseite wie einen Roman: und ist betrogen. Ein abgefeimter Gauner hat aus gefälschten Worten ein gefälschtes Ding fabriziert, das so tut, als sei es ein Buch. Was ist los mit einer Literaturszene, die einem solchen Betrüger auf den Leim gehen kann?

F. las die Anschuldigungen ratlos, bis ihm der Gedanke kam, das Blatt habe sich einen Spaß erlaubt.

Natürlich! Das musste es sein.

Ein Scherz.

Seiner beschaulichen Natur nachgebend, lehnte er sich zurück und wartete ab. Nicht einmal, als Zeitung um Zeitung die Vorwürfe in sensationeller Aufmachung nachdruckte, nicht einmal, als er seinen Verleger anrufen wollte und an der sich verschließenden Stimme der Sekretärin merkte, dass er zur Unperson geworden war, nicht einmal, als er am folgenden Tag einen eingeschriebenen Brief erhielt, in dem die Rechtsberater seines Verlegers ihn unter Fristsetzung um Stellungnahme ersuchten – nicht einmal da fühlte er Unruhe.

Das ist doch lächerlich, sagte er zu einem befreundeten Anwalt. Wie kann man einen Roman fälschen? Wenn man einen Roman fälschen wollte, dann schriebe man ihn bereits!

Der Anwalt, unter dem F.schen Gebrauch des Konjunktivs zusammenzuckend, riet zum Stillhalten. Die Sache ist noch nicht reif, meinte er. Halten Sie sich bedeckt.

Ob dieser Rat nun gut war oder schlecht, machte keinen Unterschied. Am nächsten Morgen, in aller Frühe, klingelten an F.s Tür die Büttel. Man wies den richterlichen Befehl vor, F.s Wohnung zu durchsuchen.

Wozu? fragte F.

Um Beweismaterial sicherzustellen, erwiderte der den Vorgang leitende Beamte. F. erfuhr, dass sein Verleger, eine Reihe von Buchhändlern und ein Volkshochschuldirektor ihn wegen Betrugs angezeigt hatten.

Die Büttel durchwühlten seine Wohnung und räumten Schreibtisch und Manuskriptschrank aus bis auf den letzten Zettel. F. stand mit hängenden Armen dabei und ließ die Prozedur, zu der auch eine Leibesvisitation gehörte, widerstandslos über sich ergehen. Die Beamten verstauten das beschlagnahmte Material, etliche Waschkörbe voll, in ihren drei Streifenwagen, die sie direkt vor F.s Tür abgeparkt hatten, und fuhren davon.

Es dauerte einige Zeit, bis die Wasser der zusammengeströmten Nachbarn sich wieder verlaufen hatten.

Am Abend, als F. an seinem nun angenehm leeren Schreibtisch saß, kam seine Frau und eröffnete ihm, dass sie – für einige Zeit wenigstens – eine eigene Wohnung in einer fremden Stadt nehmen wolle. Es ist nicht wegen mir, sagte sie, aber die Kinder, sie können hier nicht bleiben, das reinste Spießrutenlaufen, du verstehst. Ach ja, und die Möbel müsse sie natürlich mitnehmen, und Geld brauche sie auch.

Man ließ F. keine Zeit, sich an der nun ebenfalls angenehm leeren Wohnung zu erfreuen. Der Möbelwagen mit Frau und Kind war kaum um die Ecke, da nahte aus der anderen Richtung ein Streifenwagen. Die Büttel, im Besitz eines Haftbefehls und angesichts der kahlen Räume meinend, F. bei einem Fluchtversuch ertappt zu haben, warfen ihn zu Boden, würgten und traten ihn und schrieben eine Anzeige wegen Beamtenbeleidigung und Widerstands gegen die Staatsgewalt. Danach brachten sie ihn fort.

Da er nun als gewalttätig galt, wurde er am nächsten Morgen dem Haftrichter in Handschellen vorgeführt. Er hat keinen festen Wohnsitz, begründete der Staatsanwalt das Haftbegehren und schwenkte Papiere. Hier – Dutzende von Zeugenaussagen, die alle bestätigen, dass sein Wohnen nur vorgetäuscht war. Alles eine Fälschung. Er hat beim Betreten seines vorgeblichen Hauses sogar das Öffnen und Schließen der Tür nachgemacht. Selbst sein Grüßen der Nachbarn war gefälscht. Mit krimineller Energie hat er Wohnen und Gehen und Reden vorgespiegelt. Unglaubliche Fälscherkunst. Aber auf Dauer hat er seine Nachbarn nicht zu täuschen vermocht. Einmal musste alles auffliegen.

Der Haftrichter sah nachdenklich durch F. hindurch und stellte fest: Es besteht also Verdunkelungsgefahr. Der Angeschuldigte ist in Untersuchungshaft zu überführen.

So bezog F. eine schmale Zelle im Untersuchungsgefängnis, deren geblümte Gardine er allerdings abhängte. Statt sich auf seinen Prozess vorzubereiten, wie zu tun ihn der Anwalt, täglich nervöser, bedrängte, hockte er stundenlang unter dem nackten Fenster, den Kopf gegen die Wand gelehnt, und starrte hinauf ins Leere. Die Gitter, weit davon entfernt, ihn zu beunruhigen, schienen ihm ein Versprechen, sie sprengen zu können. Er erfuhr übrigens, dass sich draußen seine Bücher verkauften wie nie.

Die Verhandlung brachte F.s vollständige Vernichtung, sie war, wie die Wochenschrift formulierte, sein Debakel, sein Fiasko, sein Armageddon, er ist erledigt, zerknüllt, ausradiert.

Bis zum Auftritt des gerichtlich bestellten Gutachters hatte F.s Anwalt noch Hoffnungen gehegt, danach war alles vorbei. Der Gutachter hatte, um dem Fälschungsvorwurf auf den Grund zu gehen, die F.schen Texte sogar statistischer Analyse unterzogen. So beläuft sich zum Beispiel, sagte er, die Zahl der „E“ in diesen Texten, auf eine Normalseite umgerechnet, auf einhundertsiebenundneunzig.

Der Richter fragte: Und wie viele „E“ wären durchschnittlicherweise in einem erzählenden Text zu erwarten?

Der Gutachter machte eine Kunstpause, bevor er in die atemlose Erwartung hinein erwiderte: Nun eben einhundertundsiebenundneunzig.

Sensation! Tumult! Der Richter wandte sich in leidenschaftlicher Erregtheit gegen F. und rief aus: Wollen Sie immer noch vorschützen, dies sei ein Zufall?

F.s Anwalt sank in sich zusammen. Er fühlte, von diesem Augenblick an vermochte er selbst nicht mehr an F.s Unschuld zu glauben. Wie sollte er jemanden glaubwürdig verteidigen, der so abgefeimt war, dass er in seine Texte sogar die korrekte Zahl der „E“ hineinfälschte?

F. wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, und zwar ohne Bewährung, da sein hartnäckiges Einlassen, er habe das beklagte Fälschen eines Romans für sein Schreiben eines Romans gehalten, mit anderen Worten, seine fehlende Schuldeinsicht, ihm eine äußerst ungünstige Sozialprognose stelle.

Wenn der nicht fühlbar bestraft wird, sagte der Richter, macht der das doch sofort wieder.

Seine Frau begehrte nunmehr die Scheidung. Sie machte geltend, dass sie F. als Schriftsteller und nicht als Fälscher geheiratet habe. Arglistig habe er sie über wesenswichtige persönliche Eigenschaften getäuscht. Die Ehe wurde für nichtig erklärt. Einem letzten Brief entnahm F., er habe sich in eigenem Interesse von seinen Kindern fernzuhalten. Man wisse ja nun um seine wahre Natur. Man werde Wege finden, sich vor ihm zu schützen.

Gerichtlichen Schutz begehrte auch der Verleger. Er trat auf mit einem exorbitanten Schadenersatzanspruch. F.s mit zerstreuter Heiterkeit vorgetragenen Einwand, der Verleger verkaufe den fraglichen Roman weiterhin und wolle an ihm also zweimal verdienen, quittierte der gegnerische Anwalt mit dem Bemerken: Das ist ja wohl das mindeste, als Ausgleich für das, was Sie uns angetan haben. Und die Zivilrichterin fügte spitz hinzu, wenn F. ein Schriftsteller sein wolle, dann habe er doch wohl über solchen Dingen zu stehen. Es befremde, wie einlässlich er sich um die merkantile Seite seines Treibens Gedanken mache.

Die Summe, zu deren Zahlung F. verurteilt wurde, zwang ihn, noch aus dem Gefängnis heraus, sein Haus zu verkaufen.

Als man ihn nach Verbüßung seiner Strafe auf freien Fuß setzte, war er mittellos, und ein Sozialarbeiter besorgte ihm unter einem Dach der Altstadt eine möblierte Kammer, die F. am Tage der Entlassung dankbar bezog.

Noch am gleichen Abend setzte er sich an den wackligen Küchentisch, der zusammen mit einem Schrank, einem Stuhl und einem Bett die Ausstattung seines Zimmers bildete, und glättete vor sich ein Blatt Papier, um unter der kahl pendelnden Glühbirne seine Arbeit wiederaufzunehmen. Er wollte mit dem Wort „Leider“ beginnen, doch kaum hatte er das „L“ hingeschrieben, als er den Stift beiseite schleuderte und sich, den Stuhl dabei umwerfend, in die Zimmerecke stürzte. Gegen die Wand gedrückt, starrte er mit schreckensweiten Augen auf das Papier, das weißglänzend im Licht lag.

Das „L“ war falsch. Es war kein „L“. Es war ein bloßer Winkel, ein Haken, ein hingeschmierter Zacken, der nur vorgab, ein Buchstabe zu sein. Es war eine Fälschung.

F. spürte sein Herz jagen und dachte für einen Augenblick, er werde ohnmächtig. Dann ermannte er sich, zog Schuhe und Jacke an und verließ das Haus, ohne das Licht zu löschen.

Die Straßen lagen schon still, und F. schlug mit ausgreifendem Schritt den Weg zum Stadtrand ein, in den bequemen Schuhen aus zweiter Hand, die ihm der Wohlfahrtsverband geschenkt hatte. Er fand eine Ausfallstraße, neben der ein Feldweg herlief, dem folgte er. Die Nacht war dunkel und windig, gelegentlich sank Regen. F. durchstöberte die Taschen seiner Jacke, und bei dem ersten passenden Wassergraben warf er seinen Schlüssel hinein und seinen Personalausweis und die anderen Dokumente, die er bei sich trug.

So wanderte er in die weite Welt hinaus.

Als im Frühdämmer die Häuserpfützen der Nachbarstadt vor ihm auftauchten, gaben ihm die grauen Morgengesichter an einer Bushaltestelle den ersten Hinweis: sie in gerader Richtung vermeidend, folgte er eine Strecke weit einem Müllwagen, dann dem Geräusch einer zuschlagenden Autotür, schließlich der deutenden Gebärde auf dem Bildchen eines Heiligen, das er im Rinnstein vor einer Kirche fand. Er geriet wieder auf offenes Land, fliehende Vögel wurden ihm ein weiterer Fingerzeig, ebenso wie Buchstaben auf einem vorbeidonnernden Lastwagen, ferne Blitze und das Geschrei spielender Kinder.

Am vierten Tag fand er am Ufer eines Flusses ein verlassenes Fabrikgelände. Im schwarzroten Backsteinschatten einer Lagerhalle setzte er sich in den Dreck und gelobte.

Drei Tage schrie er und kratzte sich blutig und warf Staub über sein Haupt und hungerte und löschte seinen Durst aus schlierigen Pfützen, da hatte der Dämon ein Einsehen und flüsterte ihm den ersten Vokal zu, ihm schien, es sei ein „A“, und hoffnungsvoll warf er damit nach dem aufflatternden Schwarm der Konsonanten; erst tief in der Nacht, vor dem ersten Dämmer, merkte er, dass der Dämon ihn gefoppt hatte. Der Vokal war ein „O“, in grenzenloser Erleichterung brüllte er ihn über das Gelände, und aus den Echowinkeln zirpten herbei die Mitlaute.

So ward ihm aus Abend, Nacht und Morgen das erste Wort. Er ritzte es mit einem rostigen Nagel in einen Flusskiesel, den vergrub er, am Fuß der Halle.

Dreißig Jahre wanderte er nun kreuz und quer durch den Kontinent. In verlassenen Gehöften, unter Burgmauern und im Schatten stillgelegter Bahnhöfe stöberte er die Wörter auf und ritzte sie in Stein und vergrub sie. Manchmal klang aus dem Dunkel, in das er hineinhorchte, nur eine einzige Silbe; er lernte, auch damit zufrieden zu sein. Dann wieder strömten in majestätischer Folge ganze Sätze herbei, wandellos und von geschmiedetem Klang, und er, schluchzend vor Glück, fing ein ihr Echo, bevor sie davonsegelten in die Lautlosigkeit (das erste Mal geschah ihm das in einem aufgegebenen Dock am Rande eines nördlichen Hafens, unter einem Verladekran, der bald zusammenbrechen würde). Im Schutt eines Dorfes auf sonnebrennender Höhe erlauschte er einige Worte, die bildeten einen Satz zusammen mit jenen, die er in einem Hinterhof in grauer Riesenstadt unbemerkt vergraben hatte. Ein andermal empfing er in einer Festungsruine im Westen des Kontinents den Widerhall einer Flucht von Vokalen, die er auf den Felsstürzen über einem nördlichen Fjord nicht recht verstanden hatte: da machte er sich auf und schlurfte durch die flachen Länder unter dem Meereshimmel und dann die Küsten entlang bis zu einer Landzunge, wo ihn ein ratloser Fischer über den Sund setzte; drüben tippelte er in wachsender Unruhe landeinwärts durchs Würfelmuster der bestellten Felder bis hoch zu den steilen Abstürzen des Fjordlandes; und als er dann, laut Gott lobend, im Angesicht des Meeres unter der eingestürzten Mauer eines verlassenen Friedhofs den Stein ausgrub, da er vor Jahr und Tag die unverstandenen Silben eingeritzt hatte, und als er nun ihren Sinn empfing, da wälzte sich über ihn das Gewitter der Worte, dass er mit blutigen Fingern Zeichen wühlte in den Sand, die Musik des verhallenden Donners festzuhalten. Der Abend fügte sich zur Kugel aus Erz, an diesem Tag.

Er lebte sein Leben. Gleich zu Anfang lernte er zu stehlen und zu betteln, er lernte die Obdachlosenheime zu nutzen und die Wohlfahrtküchen und die Pfarrhäuser. Die Jahre wurden ihm ein gleichförmiger Strom, kaum, dass am Ufer einmal Wegmarken vorüberglitten. In einer Kreisstadt eines östlichen Waldlandes saß er einige Wochen im Gefängnis, weil er für einen Dieb gehalten wurde; als man ihn laufen ließ, schenkte ihm einer der Wärter eine Jacke, die trug er noch lange. Weit unten im Süden, unter einer heißen Sonne, wäre er beinahe sesshaft geworden, als ein Straßenfeger, der endlich ins Altersheim wollte, ihm seinen Besen und seinen Bezirk anzudrehen versuchte; aber er floh noch rechtzeitig. Auf dem Rückweg nach Norden schwängerte er beim Übergang über die ungeheure Felsenbarriere, die sich ihm in den Weg legte, eine lebenssüchtige Bäuerin, die gebar ihm einen Sohn, von dessen Existenz er niemals hörte.

Er alterte zu einem beweglichen Greis mit hellen Augen und eiligen Gesten. Aber das weite Wandern wurde ihm beschwerlich. An den Südhängen des Zentralmassivs inmitten des waldigen Westlandes fand er eine Art Heimstatt. Gleich einem äsenden Tier schlurfte er behaglich durch die Sommertäler, wo er im Gestrüpp das morsche Granitgeklingel der vergessenen Dörfer aufstörte, der eingesunkenen Kirchtürme, der aufgelassenen Friedhöfe, der Burgen mit ihren Zisternen und Bergfrieden, die nur noch Schutthaufen waren. In den warmen Nächten kampierte er im Freien und starrte hinauf ins Sternengestöber; die Tage verschlief er im Schatten, nur am Morgen und am Abend beschäftigte er sich ein paar Stunden mit dem Gezischel und Gewisper der Silben, die Bande wieselte um ihn herum wie ein Rudel witternder Tierchen. Er ließ sich Zeit, viel Zeit, ehe er – immer mal wieder – ein paar Worte in eine alte Türschwelle ritzte, die er dann liegenließ; im Schutze dieser Weltentlegenheit schien ihm das Vergraben überflüssig.

Mit den Jahren gewöhnte er sich an feste Wanderwege, in den Dörfern und kleinen Städten begann man sich an ihn zu erinnern, wenn er auftauchte. Er fühlte sich sicher.

Zu sicher.

Es geschah eines Regentages, dass er mürrisch von den Bergen hinunter in ein Städtchen schlurfte, um bei dem Pfarrer ein Nachtlager zu erschnorren. Da drangen Gesichter auf ihn ein. Verzerrte Gesichter, hocherregt. Er hörte nur Rufe: Das ist er!, und er sah, wie eines der Gesichter eine Maschine vors Auge hielt und ihn mehrfach damit anblitzte. Er hob abwehrend den Arm.

F.! rief eine Stimme in der Sprache seines alten Landes. F.! sind Sie der Schriftsteller F.?

Ein idiotischer Reflex aus alten Zeiten verleitete F. zu nicken.

Die Stimme begann zu schreien. Er ist es! Mein Gott! Er ist es wirklich! Wir haben ihn gefunden! – und das Gesicht mit der Maschine blitzte unaufhörlich.

F. fühlte sich von haltenden Händen in eine Wirtstube gedrängt, an einen Holztisch gesetzt. Das schreiende Gesicht sprudelte Worte. Wir haben Sie gesucht, seit Jahren suchen wir Sie, was für eine Story, wissen Sie denn gar nicht, man hat alles noch einmal aufgerollt, Sie sind gerechtfertigt, das Urteil ist aufgehoben, man hat Ihnen den Großen Staatspreis mit Gesäßkordel verliehen, und hier sind Sie jetzt, Irrsinn, was für eine Story, nach all den Jahren, sagen Sie, Sie haben doch bestimmt geschrieben, in all der Zeit?

Wieder verleitete der gleiche idiotische Reflex F. zu nicken.

Texte! lallte das Gesicht im Delirium. Texte! Irrsinn! Wahnsinn! Was für eine Story!

F. wurde genötigt zu essen. Die Wirtsstube füllte sich, Bewohner des Städtchens kamen hinzu, man zeigte auf F., man flüsterte. Das Gesicht fletschte und heischte ohn Unterlass. Als die Teller vor ihm standen, aß F. mit Appetit und begehrte Nachschlag.

Schließlich wurde er in ein Hotelzimmer überführt. Er fühlte erneut haltende Hände am Arm, über dem Ellbogen. Alles ist vorbereitet, heiserte das Gesicht, gleich morgen früh fahren wir los, Sie werden ja so erwartet, mein Gott, was für eine Story.

Das Gesicht hätte sich zu F. ins Bett gelegt, hätte er es nicht mit Nachdruck aus dem Zimmer gedrängt. Als er die Tür schloss, wurde er ein letztes Mal von draußen angeblitzt.

Er löschte sofort das Licht. Auf dem Bettrand sitzend wartete er, bis das Haus verstummte. Er saß wie eine Statue aus altem Flusstal, aufrecht, die Hände flach auf den Knien. Weg hier, murmelte er zuweilen, bloß weg hier. Auf dem kleinen Marktplatz draußen grölten Stimmen, einmal heulte ein Moped, dann wurde Stille. F. stand auf, zehenspitzte zum Fenster, beugte sich hinaus. Es hatte aufgehört zu regnen, der Wind glänzte wie Lack. F. schwang sich aufs Fensterbrett, die Gelenkigkeit seiner alten Knochen behutsam prüfend, dann kletterte er Zug um Zug an den bürgerlichen Verzierungen der Fassade zu Grund. Als er auf dem Platz stand, war er nicht einmal außer Atem.

Hihi, machte er, bloß weg hier.

Er drückte sich an der Kirche vorbei hinein in die Gassen der alten Stadt. Mit jeder Ecke wurde sein Schritt ausgreifender. Er brauchte keine zwanzig Minuten, das offene Land zu gewinnen. Ein Sträßchen wand sich durch Wiesen und lichten Wald.

F. lachte laut. Weg hier! brüllte er. Bloß weg!

Und dann begann er zu rennen. Er jubelte und warf den Hut in die Luft, den er nicht hatte, er sprang über Pfützen und tanzte im Zickzack. Der Wind jagte die Flucht der Wolken über den Himmel, und die Wolken versprühten ganze Schauer von Sternen, und dann sah F. vor sich das altersschwarze Gemäuer der Berge, die murmelnde Herde der Hänge, und er brüllte und sang, er schleuderte die Greisenbeine, schlug Schnippchen mit den Fingern, die Bäume am Wegrand fegten den Himmel, bis der Sternengischt an ihnen heruntertroff in dicken Flocken, und F. setzte in jagenden Sprüngen dem Hochland entgegen, den mondenen Zinnen des Zentralmassivs, er sang, er prügelte mit den Fäusten durch die Luft, er nahm mit einem Sprung zwei, drei Pfützen auf einmal, er schrie, er wieherte vor Lachen, er rannte und rannte und rannte.

Es hat ihn niemals einer wiedergesehen.

(Dies schrieb Peter von Mundenheim in einem unveröffentlichten Manuskript, Veröffentlichung dieser Fassung 06.10.2021, © Verlag Peter Flamm 2021. Peter von Mundenheim legt Wert auf die Feststellung, dass diese Geschichte, wiewohl sie als abgeschlossene Erzählung durchgehen könnte, Teil eines größeren Zusammenhangs ist. Wie sich kleinere Erzählstücke in einen größeren Rahmen einfügen, hat er in seinem Beitrag „Der bunte Regen der Wörter“ am 30.09.2021 auf dieser Seite angedeutet.)