Da, jetzt hab ichs hingeschrieben. Hab Wunder was gedacht, wie schwer das wär. Juliette, mon amour. Da steht es.
Hier ist Sandra. Als Peter im Vorbeigehen angekündigt hat, er hätte für PvM eine Website eingerichtet, da hab ich natürlich ganz laut geschrien, ich auch. Ich und meine große Klappe. Und natürlich hängt er mir seither im Nacken und stichelt, du bist doch bekennende Lesbe, sicher hast du was zu erzählen, was wir anderen noch nicht wissen, solltest du nicht, wolltest du nicht – ?
Doch, ich wollte. Vom ersten Augenblick an hab ich gewusst, was ich hier schreiben wollte. Ich hab was zu sagen. Ich meine, jeder hat was zu sagen, irgendwas, was tief in ihm drin liegt, wie der Stein am Grund des Brunnens. Den Stein muss man hochholen, und dann gehen Wünsche in Erfüllung. Mein Wunsch ist schon in Erfüllung gegangen.
Juliette, mon amour.
Ich hab das noch niemandem erzählt, es ist ein Geheimnis. Die Wahrheit sagen, das kann jeder. Soll man ja auch. Aber eine Wahrheit sagen, von der noch niemand was weiß, das ist eine Aufgabe. Also hab ich Herzklopfen. Wenn ich bloß sagen wollte, zwei mal zwei ist vier, ging mein Herz nicht schneller. Das ist eine Wahrheit, die kennt jeder schon. Meine Wahrheit ist: Juliette, mon amour.
Juliette Récamier war meine erste Liebe, und sie ist meine erste und einzige Liebe, sie ist mein neuer Tag, mein Anfang und mein Ende, sie ist mein Versprechen und meine Erfüllung.
Juliette, mon amour.
Ich bin ihr begegnet, da war ich noch ein Kind. Dreizehn. Ich sollte ein Referat schreiben, für den Geschichtsunterricht, Thema freie Auswahl. Ich war natürlich frauenbewegt, welche Dreizehnjährige ist das nicht, und ich hatte in der Bibliothek ein Buch gefunden über die schönen und klugen Frauen, und das mussten sie einfach sein, schön und klug, die in ihrem Salon die Gescheiten und die Begabten und die Mächtigen um sich versammelt hatten. Man kam zusammen, man tratschte und plante und liebte und beobachtete.
Es gab die Französische Revolution, und es gab die Neuordnung, und es gab Napoleon. Und dazwischen gab es Juliette Récamier.
Ich lieh mir Bücher aus zum Thema, trug sie nach Hause, schlug eines von denen auf, und die Welt war zu Ende. Da war eine Schwelle, und ich stolperte über die Schwelle, und jenseits waren neue Länder. Und ich hatte nichts gewusst von den neuen Ländern, und als ich über die Schwelle stolperte, hatte ich nicht gewusst, dass mein Leben nun zu Ende war, und ich ein neues anfangen müsste.
Juliette, mon amour.
Ich schlug ein Buch auf, und da war sie. Schläfrig hingelehnt in einen Tag, der war so weich wie ein Pfirsich, man durfte ihn gar nicht berühren.
Nackte Schultern und Arme, und ein Blick aus dunklen Augen, ich wusste gar nicht, was der mit mir tat. Mein Herz klopfte auf einmal zum Zerspringen. Ich wusste plötzlich, ich wollte nur noch eines, meinen Kopf lehnen an diese kindliche Schulter, dass ich die nackte Haut spürte an meiner Wange, und unter ihrer nackten Haut die geschmeidige Härte ihres Schulterknochens, drückend gegen meinen Schläfenknochen, ich spürte diesen Druck, Bein gegen Bein, und dazwischen die dünne Wärme ihrer Haut und meiner Haut, ich spürte das.
Ich saß eine Stunde und starrte das Bild an. Es kamen noch viele Tage, da kam ich nach Hause und vergaß alles andere und setzte mich hin und öffnete das Buch, das schlug sich bald von selber auf an dieser Stelle, und ich wusste nichts mehr und sah sie an, Juliette Récamier.
Ich begriff umstandslos, was sie mit mir tat. Sie tat, was nur Frauen tun können, sie hatte diese Macht, die nur Frauen haben. Keine schlagende und unterwerfende Macht. Sie hatte diese Macht, die jeden Gegner wehrlos macht, so dass er die Arme hängen lässt. Sie lässt auch die Arme hängen auf dem Bild, die zarten nackten Arme mit den spielenden Fingern, als wollte sie andeuten, sie muss gar nichts tun, um Macht zu haben. Sie ist selber ihre Macht, ihre Macht liegt in ihr selbst, sie verzaubert die Menschen, und wer ihr begegnet, verfällt ihrem Zauber. Ihr Zauber macht die Menschen wehrlos und willenlos, sie nutzt das nicht aus, es gehört zu ihrer Welt, dass sie kommt und siegt, ohne jemanden unterwerfen zu müssen.
Es gab Nachrichten. Sie hatte schon mit fünfzehn geheiratet, einen reichen alten Bankier, der sie alles machen ließ. Monsieur Récamier. Die Ehe wurde nie vollzogen, in den Büchern wird allgemein vermutet, er war ihr Vater. Sie kam nach Paris, unter der Guillotine wurden Köpfe abgehackt, sie richtete ihren Salon ein, und durch all das Blut und Elend tanzte sie so gut wie nackt, wehrlos und unberührbar, sie setzte diese Mode, dass die Frauen kaum noch ein Fähnchen trugen am Leib. Und sie übte diesen Zauber aus, der siegte, ohne jemals sich durchsetzen zu müssen. Zauber, der von selber siegt, einfach, indem er da ist. Sie siegte, so wie sie mich besiegt hatte, auf den ersten Blick.
Sie beschränkte sich nicht aufs Zaubern, sie konnte sich wehren. Sie missachtete Napoleon, das tat sie. Sie unterwarf sich dem Kaiser nicht, dem mächtigsten Mann der Welt. Ihr Salon wurde Anziehungspunkt für alle, die dem Kaiser nicht gehorchen wollten, und irgendwann musste Juliette Paris verlassen, nach drei Jahren aber war der Kaiser gestürzt, und Juliette kehrte zurück und öffnete die Türen ihres Salons und nahm ihr altes Leben wieder auf.
Es ist viel geschrieben worden über sie, und es gäbe viel zu erzählen. Wenn sie sich auf der Straße blicken ließ, verursachte sie einen Menschenauflauf, sie war so herzzerbrechend schön, dass die Leute es nicht glauben wollten und stehenblieben, um sie anzuschauen und vielleicht zu berühren. Sie war eine Fee, sie war ein Popstar, so etwas in der Art. Aber darum geht es mir nicht. Es geht mir um Juliette, um Juliette um mich.
Ich war noch nie der Mittelpunkt meiner Welt gewesen, ich war ein einsames und hässliches Mädchen, aber nun hatte ich ein Zentralgestirn meines Universums, Juliette, Juliette, mon amour. Ich träumte von ihr ohne Unterlass. Ich träumte von ihren Löckchen und der weichen Geschmeidigkeit ihre Elfenleibes, ich träumte von ihrem dunklen Blick, ich träumte von dem Lächeln in ihren Mundwinkeln. Ich war dreizehn, und ich wusste längst, mit mir und den Jungs, das wird nichts mehr. Aber nun war da Juliette, und Juliette war meine erste Liebe, und ich hatte nicht gewusst, was Liebe ist, niemand weiß, was Liebe ist, bevor er nicht über die Schwelle stolpert und dieses kleine Glöckchen klingelt, das sagt: nun ist die alte Welt vergangen. Ich schlug das Buch auf und vergaß alles und sah Juliette und sah nichts mehr als sie.
Ich wusste ich weiß, es gibt da irgendwo einen Garten, da wartet sie auf mich. Einen Garten mit dunklem Laub und warmen braunen Schatten, da wartet sie auf mich. Sie wird ihren weichen Arm heben, und es wird ein Zauberkreis sein um den Garten, niemand mehr wird hereinkommen. Es wird Flüstern sein und Tuscheln und Lachen, und Küsse werden sein.
Sie brach mir das Herz jeden Tag neu. Ich lag vor ihr auf den Knien, und sie hätte mit mir machen können, was sie wollte. Ich wusste, was immer sie sagte, es würde geschehen. Jeder würde tun, was sie wollte, und sie müsste es kaum aussprechen. Jeder würde sie suchend anschauen, um zu erraten, was sie wohl wollte, um es tun zu können, noch ehe sie ihren Wunsch ausgesprochen hätte. Ich würde ihr Lächeln küssen, einmal den rechten Mundwinkel, einmal den linken, und die Welt würde stehenbleiben, denn aller Sinn und Zweck der Welt war nun erfüllt.
Wenn ich diesen Garten finde, eines Tages, werde ich in Sicherheit sein, endlich. Es wird nicht nur so sein, dass da ein Zauberring ist um den Garten, so dass niemand herein kann. Der Ring wird mich auch schützen vor allem, was in mir drin ist und nicht drin sein sollte. Juliette ist endlich eingedrungen in mein Herz, Juliette hat Wohnung genommen in meinem Herz, und ihr Zauber macht, dass ich endlich unberührbar bin.
Alles, fast alles könnte der Mensch ertragen, wenn er hinterher nicht daran denken müsste, sagt PvM. Wenn Juliette einst Wohnung nimmt in meinem Herzen, muss ich nichts mehr ertragen, denn nichts berührt mich mehr.
Das ist das Geheimnis. Juliette und ich. Einmal kommt der Tag, da finde ich den Garten. Nichts mehr wird dann sein, als Juliette und ich.
Juliette, mon amour.
Juliette, toujours.
(Das schrieb Sandra Zwischenwirt für diese Seite, am 05.10.2021, © Verlag Peter Flamm 2021)
(Bild: François Gérard, Madame Récamier. Source Wikimedia Commons, public domain)