Einmal in dieser Zeit zog es mich zur Heiligen Mauer. Ich stand vielleicht eine Stunde auf der Galerie. Badete im Gebrüll der Schmerzen. Die leidlosen Götter, dachte ich. Vielleicht lauschen sie diesem Geheul wie einer Musik. Einer strengen, kraftvollen Musik, deren Sinn sie nicht verstehen, an deren Fremdheit sie sich aber ergötzen. Ergötzen. Denn sie wissen ja nicht, was Leiden ist. Die Göttin weiß es auch nicht, dachte ich. Kommt sie manchmal her, um zu lauschen? Kommt sie manchmal? Ich ahne euer tiefstes Geheimnis, murmelte ich (und meinte die Unsterblichen): Ihr lauscht dem Leiden, und verwundert euch seiner Kraft. Denn alles wird nur stark durch Leiden: Liebe, Hass, Traum, Hoffnung, Not, Lust – alles nur stark durch Leiden.
Ich wurde glockenwach. Ich starrte zum Himmel. Ich habe euch! rief ich aus. Ich bin euch auf die Schliche gekommen! Jetzt kenne ich euer Geheimnis: Ihr neidet uns das Leiden!
Khalil drängte sich an mich. Er begann sich vor dem Gebrüll der Pilger zu fürchten. Das geschah bei jedem Besuch. Ich merkte, dass ich mir nur eingebildet hatte zu rufen. Ich war still.
(Das schrieb Peter von Mundenheim in „An der Mauer“, Druckfassung Seite 191-192, erhältlich bei amazon. Dieser Ausschnitt veröffentlicht 03.10.2021, © Verlag Peter Flamm 2021)