Das Murmeln der Artefakte

Nun ja, Artefakte, das ist der Ausdruck, den ich gerne verwende. Andere sagen eher, Kunstwerke. Kunstwerk! Ein schönes Wort. Wer Kunstwerk sagt, der sagt, wo das Ding hingehört. Ins Museum, in die Bibliothek, an die Wand, in den Konzertsaal, auf den Müll. Aber die Artefakte haben keinen Ort, die sind fremd in der Welt. Irgendwann mal tritt jedes Artefakt ein in die Welt, wie einer zur Tür hereinkommt. An seinem Ort, zu seiner Zeit. Und zwar von draußen. Kommt herein aus einem Außerhalb, von dem noch zu reden wäre. Als Shakespeare seinen Hamlet zum ersten Mal aufgeführt hat, waren die Leute begeistert, sie haben gesagt, das ist wir, das ist heute. Und dann beginnt das Artefakt, durch die Zeit zu wandern. Es bleibt nicht stehen in der Zeit, da es zuerst in die Welt trat, keineswegs. Es wandert aber auch nicht mit den Menschen durch die Zeit. Es wandert den Menschen voraus.

Seht ihr, das ist unheimlich. Hamlet. Bleiben wir mal beim Hamlet. Der redet zu uns. Wir leben in einer Welt, von der konnte Shakespeare nichts wissen. Internet, Glasfasertechnologie, Raumfahrt, davon wusste der Mann nichts. Und dann fängt Hamlet an zu reden, und siehe da, der redet nicht über die lang vergangene Zeit, als Shakespeare lebte, sondern der redet über unsere Zeit, über das Heute, der hat uns Heutigen was zu sagen. Würde er nur über die Zeit Shakespeares reden, das würde doch höchstens die Historiker interessieren. Aber er redet zu uns, und über unsere Zeit. Und wenn unsere Enkel, sagen wir, im Jahr 2070 ankommen, wenn sie angekeucht kommen auf der Höhe ihrer Zeit, was werden sie dann feststellen? Hamlet wird schon da sein. Der wird schon da sein im Jahr 2070 und ihnen abwartend entgegengucken, und dann wird er ihnen etwas zu sagen haben, über das Jahr 2070, von dem wir heute noch keine Ahnung haben und in dem die Enkel gerade eben erst eingetroffen sind. Die Enkel müssen sich erst noch heimisch machen im Jahr 2070, aber Hamlet wird schon da sein, und zu ihnen reden. Wir wissen nicht, was im Jahr 2070 sein wird, aber dass Hamlet da sein wird, das wissen wir.

Die Artefakte sind geboren in der Zeit, aber sie sind nicht verhaftet der Zeit. Sie sind aller Zeit immer schon voraus. Die Artefakte sind fremd in der Zeit, und je älter sie werden, desto fremder werden sie. Den ersten Zuschauern noch war Hamlet eine klare Sache. Je mehr Zeit verstreicht, desto fremder und rätselhafter erscheint uns das Ding, es war einst bloß ein Schauspiel, jetzt ist es ein Artefakt. Vom Himmel herabgefallen, Ding aus einer fremden Welt. Wo wir auch hinkommen, wir stolpern über Artefakte, eines wunderbarer als das andere, die Welt ist voll von ihnen, und wir heben sie auf und drehen sie und wenden sie und betrachten sie von allen Seiten und können uns gar nicht erklären, was wir damit anfangen sollten, wie wir dies Ding zu verstehen haben, und dann beginnt das Artefakt zu reden.

Wer das einmal erlebt hat, dass er ein Artefakt aufnahm, und das Teil hebt an zu reden, der vergisst diesen Augenblick nicht mehr, nimmermehr. Dem bleibt das Herz stehen, wenn das Teil plötzlich zu sprechen beginnt.

Nein, es hat nichts mit euch oder mir zu tun, ob das Artefakt zu sprechen beginnt. Ob und zu wem das Artefakt spricht, entscheidet das Artefakt ganz alleine. Deshalb muss sich auch niemand schuldig fühlen, wenn Hamlet nicht zu ihm spricht. Er darf mit gutem Gewissen sagen, Hamlet sagt mir einfach nichts. Aber vielleicht dieser neue Song von Taylor Swift! Oder diese paar unendlich süßen Klimpertakte, gehört zufällig im Radio, was war denn das? Das war Mozart. Hat mein Herz in kleine Würfel geschnitten.

Die Artefakte reden, wann sie wollen und zu wem sie wollen. Und sie sagen jedem etwas anderes. Ihre Stimme ist fremd, sie dringt herab aus fernen Welten. Es kommt gar nicht darauf an, dass wir verstehen, was die da reden. Sie malen unbegreifliche Zeichen an die Wand, in einer Schrift, die wir vielleicht gar nicht lesen können. Macht doch nichts! Der Punkt ist, sie reden. Wenn ein Artefakt zu dir redet, redet es mit einer Stimme, die hat kein Menschenohr zuvor vernommen. Du verstehst kein Wort von der Botschaft? Hauptsache ist doch, du weißt jetzt, es ist Botschaft in der Welt.

Vor mehr als hundert Jahren wurde aus dem ägyptischen Wüstensand der Kopf der bunten Königin geborgen, der heute im Berliner Museum ausgestellt ist. Nofretete. Ein Name, ein Wort, herabrieselnd aus der Milchstraße. Sie lächelt ziemlich hochmütig, und wenn du vor ihr stehst, falls es dich auf den Beinen hält! sieht sie direkt durch dich hindurch. Und zu so manchem redet sie kein Wort. Der geht dann weg und sagt, nur ein Gipskopf. Und ein anderer steht da, und es erklingt ihre Stimme. Wer ihre Stimme hört, geht in die Knie vor ihr, und kommt leblang nicht wieder auf die Beine. Ja, aber was sagt sie? Ich hab’s nicht verstanden, kein Wort hab ich verstanden, aber ihre Stimme, ihre Stimme geht mir durchs Herz wie zartes brechendes Glas. Ist doch völlig egal, was sie sagt! Die Königin! Die Königin hat zu mir geredet!

So gehen die Menschen durch die Zeit, und immer mehrt sich die Fülle der Artefakte. Manche Artefakte gehen verloren, aber im Großen und Ganzen mehrt sich ihre Zahl, denn in jeder Generation treten neue Artefakte herein in unsere Innenwelt, treten herein aus ihrem großen Draußen. Und wenn sie erst einmal drin sind in unserer Zeit, sind sie auch immer uns voraus in der Zeit, immer reden sie Dinge, von denen konnte der Urheber keine Ahnung haben. Was wusste der ägyptische Handwerker, der den Kopf der Königin schuf, von unserer Zeit? Nun ist sie aber da, die Königin, in unserer Zeit, und spricht zu uns, und redet unerhörte Dinge. Und wenn die Enkel ankommen auf der Höhe ihrer Zeit, wird sie schon da sein. Und wenn es ihr gefällt, wird sie diesen und jenen erwählen und ihn anreden. Wen sie verschmäht, der soll deshalb nicht traurig sein. Es ist nicht seine Schuld, wenn sie ihn nicht anredet, wenn sie ihm nichts sagt. Es sind Millionen andere Artefakte in der Welt, und wenn du dich umtust, eines beginnt ganz sicher zu reden, zu dir persönlich.

Geh in die Bibliothek, oder ins Museum, oder schlag einen Bildband auf, oder wühl dich durchs Angebot deines streaming-Dienstes.

Was du da hörst, in der Bibliothek oder wo immer, diese distante, fremde, unbegreifliche Musik, das ist das Murmeln der Artefakte.

(Das schrieb Peter von Mundenheim für diese Seite, am 02.10.2021, © Verlag Peter Flamm 2021)