Der Schlaf der Göttin

Die Gärten nahmen niemals ein Ende. Täglich fand ich neue Wege.

Einmal sah ich die Göttin.

Der Abend sank bereits, tauchte den Garten in grauen Dunst. Da und dort hingen Laternen in den Bäumen, die Flammen waren orangene Tropfen im Meer der Dämmerung. Der graue Beamte wollte mich zum Portal führen, da begegneten wir bewaffneten Wachen, die den Weg versperrten.

Das war in einem Wäldchen blaugrüner Nadelbäume, kein Wispern von Blättern schwebte auf der Abendstille, kein Vogelgesang.

Ich wollte mich wenden umzukehren, aber der graue Beamte zupfte mich am Ärmel.

Du darfst sie sehen, murmelte er. Nur sie sehen, nicht mit ihr reden.

Wir traten an den Rand des Waldes. Ich raffte mein Gewand, und der graue Beamte bedeutete mir durch eine Geste stehenzubleiben.

Ich sah ein welliges Wiesenland, dunkelnd unter dem Abend. Weiße Wolkentürme trieben gegen den Horizont, die färbte noch ein letzter Schein des Tages. Das Schweigen war tief, es lauschte auf den Atem der Herrin.

Sie ruhte auf einem Lager aus kostbaren Stoffen. Silberner Satin, und Samt purpurrot. Gebreitet in die dunklen Wiesen. Sie schlief. Ich sah die Göttin schlafend.

Wieder erschien mir ihr Leib von gleißendem Weiß. Sie hatte den einen Arm unter den Kopf geschlagen; die andere Hand ruhte in ihrem Schoß, als wolle sie verhindern, dass der Nachtwind befruchte den unbewachten Ort.

Niemals sah ich ein stilleres Antlitz. Mondstill. Reglos die Lider über den großen Augen. Der Kopf ein wenig zur Seite geneigt.

In einiger Entfernung standen Wachen, Schattenrisse gegen den grauenden Himmel, sie standen reglos, auf ihre Speere gelehnt, betrachteten die Herrin.

Nicht einmal die Grillen zirpten. Es war so still, ich hörte den Abendwind wehen in den Gräsern.

Aus der Gruppe der Wächter löste sich eine dunkle Gestalt, trat auf mich zu. Kaum hörte ich den Harnisch knarren, Wams aus schwarzem Leder.

Sieh unsere Herrin, raunte die Gestalt (fast tonlos).

Ich sehe sie, flüsterte ich.

Sieh unsere Herrin. Sie schläft.

Sie schläft, nickte ich.

Eine Weile schwiegen wir, dann murmelte der Offizier: Sie träumt die Welt.

Sie träumt die Welt, wiederholte ich. Tut sie das?

Sie träumt die Welt, bekräftigte der Offizier. Wir sind nur die Schatten, die hinter ihren geschlossenen Lidern vorüberziehen.

Etwas wie Verständnis dämmerte in mir auf. Verständnis wovon? weiß ich nicht zu sagen. Mit dem Verständnis kroch Erleichterung in mein Herz, Erleichterung so still wie Abendrauch. Dann ist ja alles gut, sagte die Erleichterung. Dann ist ja alles egal.

Sie träumt die Welt. Wir sind nur die Schatten, die hinter ihren Lidern vorüberziehen. Bunte Schatten hinter ihren geschlossenen Lidern.

Ich stand, bis die Dunkelheit sank. Dann führte mich der graue Beamte davon.

(Das schrieb Peter von Mundenheim in „An der Mauer“, Druckfassung Seite 171-173, erhältlich bei amazon. Dieser Ausschnitt veröffentlicht 01.10.2021, © Verlag Peter Flamm 2021)