An der Mauer

… das Klingen und Brausen wurde lauter.

Wie von Hunderten gellender Glocken.

Waren aber Menschenstimmen, die läuteten.

Menschenstimmen, die schrien.

Niemals hatte ich einen solchen Chor der Not vernommen. Jammern, Klagen, Kreischen. Gebrüll. Gefistel. Plärren. Aus Hunderten von Kehlen.

Rings umher sah ich Pilger dem Ziel zustreben. Fromm gebückt. Viele murmelten Gebete. Schlugen sich an die Brust. Taumelten dahin, Blick zu Boden gesenkt. Stolperten durch Farbpfützen. Einer warf sich in den Schlamm, maß die Strecke mit der Länge seines Körpers.

Das letzte Sträßchen war leer. Keine Handwerker mehr. Kahl und schwarz die Fassaden, als seien die Häuser unbewohnt.

Der Lärm schlug über mir zusammen. Stromschnellen, Katarakte aus Gekreisch. Wirbelnd. Nie, nicht einmal im Gebrüll der Schlacht, hatte ich solches erhört.

Ich sah zunächst nichts. Am Ende des Sträßchens drängten sich Rücken. Die Rücken schoben und pressten. Drückten. Schleuderten stirnvoran geballte Fäuste. Kehlige Rufe. Stöhnen und Brunst.

Der kleine Straßenfeger zupfte mich am Gewand. Unmöglich, sich zu verständigen. Mit Zeichen fragte er mich, ob ich schauen wollte – oder etwas anderes, das ich nicht verstand.

Schauen.

Er führte mich ein paar Schritte zurück. In einen Hauseingang, schwarz und kahl und staubig. Ja, sie waren unbewohnt, die Häuser. Ruinen. An verschiedenen Stellen sah der Himmel herein in die Finsternis.

Der Straßenfeger nahm meine Hand. Zog mich durch geschwärzte Korridore. Der Schritt knirschte. Wie auf Asche. Dann blendete mich der Tag, und mit dem Tag raste einher der Orkan des Geschreis.

Ich trat hinaus auf eine hölzerne Galerie. Überdacht.

Blickte hinunter auf einen engen Platz, den Platz, in den das Sträßchen mündete, und dessen Zugang die stampfenden Rücken verhindert hatten.

Der Platz war eingeschlossen auf drei Seiten von hohlfassadigen Häusern.

Auf der Nordseite aber, mir gegenüber –

sah ich eine bröckelnde Ziegelmauer.

Alt, verfallend.

Viermal mannshoch.

Über ihrem rechten und linken Ende schwebten hölzerne Türme, darauf bewaffnete Posten, die sahen gelangweilt nieder auf die Menge.

Die Menge.

Eingekeilt zwischen Häuser und Mauer drängte sie sich. Tausend Köpfe wohl und mehr auf dem engen Platz. Übertobt vom Sturm des Gebrülls.

Ich stand sechs Stunden auf dieser Galerie.

Die Menge wandte mir die Rücken zu. Quetschte gegen die Mauer. Die schützte eine starke eichene Brüstung.

Flehende Gesten wurden geschleudert. Kinder und Frauen auf Schultern gehoben. Manche versuchten, den anderen über die Köpfe zu kriechen. Der Mauer näherzukommen.

Nach einiger Zeit entdeckte ich die Ordnung. Die Menge floss. Langsam, zäh, gleich einem kalbenden Gletscher. Die vorderste Reihe, die die Mauer erreicht hatte, wich nach einer gewissen Zeit. Rechtshinaus, in eine Seitenstraße, die den Ausgang bildete. Von hinten quetschten frische Pilger.

Ich sah im Geschiebe reglose Körper transportiert werden gleich Puppen. Ohnmächtige. Oder Tote. Erdrückt. Erstickt. Der Erregung zur Beute geworden.

Starksehnig, platzadrig die Köpfe. In der Ekstase des Gebrülls.

Eine wabernde Schicht von Hitze brodelte über der Masse. Die Masse war ein gärender Brotteig. Ungeschützt unter der Sonne. Und dennoch lag der Platz finster. Als schluckten die hohlgesichtigen Fassaden alles Licht.

Die Gebrüllflamme schnitt mir in die Ohren. Ich versuchte ihren Sinn zu ergründen.

Unmöglich, ein Wort zu verstehen.

Die Mauer hatte einst zwei Stadtteile voneinander getrennt. Es hatte ein Tor gegeben. Zugemauert jetzt. Ebenso hatte es eine Krone gegeben. Die war abgetragen. Hinuntergerutscht, zerbröselt. Fort auch Putz und Anstrich. Bemalung. Fort. Fort. Nichts übrig als der nackte, verwitternde Ziegelkörper.

Gegen diesen drängte die Menge. Auf diesen schrie sie ein. Fuchtelnd. Gestikulierend. Die winkenden Arme ein Wald über den Köpfen.

Sie schreien Gebete, dachte ich.

Nein. Es war kein gemeinsamer Ton in dem Gebrüll.

Ich hörte Schmerzen, Flehen, überschnappendes Gekreisch.

Auf den Wachtürmen die gleichgültigen Posten.

Endlich begriff ich.

Sie schrien ihre Bitten gegen die Mauer.

Brüllten ihr Flehen gegen die Mauer. Den Nachbarn überschreiend.

Eine wunderbare Übelkeit ergriff mich. Leichtfüßig. Während meine Stirn versteinte, tanzten meine Füße ins Leere.

Ich lauschte.

Ich schwebte.

Schwebte wie in einer Glocke, auf die von draußen ein erzener Löffel schlägt. Schlägt ohne Innehalt.

Und ich sah an die brüllenden Wesen und verstand ihre Sprache.

Krankheit. Streit. Hass. Not. Hunger. Armut. Diebstahl. Verlust. Mord. Missernte. Raub. Viehtod. Alptraum. Wahnsinn. Angst. Schwermut. Atemnot. Geschwür. Impotenz. Verleumdung. Kinderlosigkeit. Kindstod. Würmer. Blindheit. Unrecht. Bestechung. Nötigung. Ehrabschneidung. Betrug. Brandstiftung. Verstoßung. Ehebruch. Zauber. Verhexung. Liebeskummer. Dürre. Wassersnot. Alter. Vergewaltigung. Fieber. Kropf.

So standen sie und kreischten ihre Klagen gegen die Mauer. Schleuderten ihre Bitten gegen die Mauer wie Geschosse. Wie Dreck. Klumpen aus Lehm, zerberstend beim Aufprall.

Dem einen brach eine Geschwulst durch die Leiste. Der andere hatte sein Kind verloren. Den nächsten hatte der bestochene Richter von Haus und Hof gejagt. Der dort war alt, der Husten vergällte seine Nächte. Der da war jung und fand kein Weib. Die dort hatte der Mann verstoßen, einer jüngeren wegen. Den da plagte die Missernte im dritten Jahr. War einer, den drückten die Gläubiger. War ein anderer, den verhöhnten die Schuldner. Eltern klagten über die Missratenheit ihrer Kinder. Kinder klagten über den Geiz ihrer Eltern.

Klage. Jammer. Gezeter.

Und Krankheit.

Stöhnte Krankheit, brüllte Krankheit.

Ich sah einen Blinden, der hob die Lider von den blauschleirigen Augen, der Mauer sein Gebrechen recht zu zeigen. Ich sah Krüppel getragen und Geschwürige mit tropfenden Wunden. Freuten sich des Eiters blauschillernde Fliegen. Krebsige brachten ihre Hohlwangen vor die Mauer, atemloses Gekeuch flehte um Heilung. Ich sah Bucklige jammern um ein Wunder. Erstorbene um Herstellung ihrer Manneskraft. Frauen heulten um Fruchtbarkeit.

Und dann die, so um Gerechtigkeit schrien. Starren Blicks, Fuchtelarme. Schwellmusklig. Unrecht war ihnen geworden, von starken Nachbarn. Genommen das Gut, geraubt das Zukommende. Jener dort hatte gewonnen, sie hatten verloren. Warum? War jener doch der Unwürdige, waren sie doch würdig. Bestrafe den Hochmut! schrien die Gepressten. Bestrafe die Bläher, die Zufriedenen, die Selbstgerechten! Oh, schleudere sie in den Schlamm! Dass sie ersticken! Kröten fressen!

Fromm beteten die Kinderlosen.

Dort war einem der Sklave entlaufen, den er gepflegt hatte von Kindesbeinen an. Wie hat er mir Unrecht getan! Mach, dass man ihn fängt! Und ich ihn bestrafen kann.

Raste die Faustschleuder gegen die Mauer. War der eine betrogen worden beim Handel, hatte der andere sich verschulden müssen beim Pachtherrn.

Und wieder Krankheit. Konnte ein Alter das Wasser nicht mehr halten, fühlte ein Junger sich vergiftet, wuchs einem Mann der Bruch aus dem Leib, schrumpften einer Alten die Glieder. Fieberte ein Kind die Tage und Nächte. Konnte ein Greis nicht sterben.

Stunde um Stunde schellte die Schmerzensglocke. Geschrell irdener Töpfe, die zerbrachen auf marmornem Boden. Geklirr von Schlüsseln auf steinerner Treppe.

Sie kreischten gegen die Mauer. Suchten einander zu übertönen mit ihrem Jammer. Schrien hinaus ihre Geheimnisse, ihre Wünsche. Schrien hinaus ihre Verbrechen, von denen der Büttel nichts wissen durfte. Schrien ihre Klagen, ihre Drohungen, ihren Hass.

Ich stand und lauschte diesem Meer des Todes. Der Lärm ebbte ab und schwoll in Wellen. Einmal dumpf wie das Stöhnen des Schlachtfeldes, einmal schrill wie das Gekreisch des Angriffs.

Der Nachmittag sank, und noch immer drängten Pilger nach. Niemals riss ab der Strom. Hier ist der Ort, wo du ein Wunder erwarten darfst. Hier ist der Ort, da schreie deinen Jammer. Hier ist der Ort, der Wunder anzieht wie ein Magnetstein den Eisenstaub.

Er wurde Abend, glühender Abend. In ein Bad aus Purpur tauchte die schreiende Menge. Eine Postenkette formierte sich am Eingang zum Platz, verriegelte den Weg. Rückte gemächlich voran. Nach und nach verschwanden die Pilger vom Platz. Das Geschrei verstummte, da in der Vereinzelung niemand seine Geheimnisse preisgeben wollte.

Scheu, geduckt, mit einem unsicheren Blick auf das Objekt ihrer Verehrung schlichen die letzten sich davon.

Auch auf die Galerie kam ein Bewaffneter, empfahl uns den Aufbruch. Nicht unhöflich, nicht höflich. Mit unbeteiligter Sachlichkeit.

(Das schrieb Peter von Mundenheim in „An der Mauer“, Druckfassung Seite 125-130, erhältlich bei amazon. Dieser Ausschnitt veröffentlicht 29.09.2021, © Verlag Peter Flamm 2021)